03 || KISSING STRANGERS

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VENICE

Einen Tag später sitzen Davina und ich wartend im Auto und blicken auf die Tür des Wohnhauses, welches sich auf der anderen Straßenseite befindet. Collin hat sich erstaunlich schnell dazu überreden lassen, sich in einem Café mit mir zu treffen, um alles zu klären. Er nimmt jedenfalls an, dass er aus diesem Grund hingeht.

»Da ist er«, macht Davina flüsternd auf Collin aufmerksam.

Tatsächlich kommt er gerade durch die Tür und läuft gut gelaunt mit leichten Schritten zu seinem Auto. Das dämliche zufriedene Lächeln in seinem Gesicht lässt mich ungläubig schnaufen.

Schön, dass es ihm trotz allem prächtig geht.
Mistkerl.

Davina räuspert sich. »An deiner Stelle würde ich mich beeilen, wenn du gleich deinen Kram holst. Ich weiß zwar nicht, wann dieser ekelhafte Schimmelkäse misstrauisch wird, aber ich würde es nicht drauf anlegen.«

Ich werfe Collin einen feindseligen Blick zu, während er in sein Auto steigt, und lasse ihn nicht aus den Augen. Selbst dann nicht, als ich meiner Cousine antworte. »Der wird bestimmt eine Weile warten, ohne großartig misstrauisch zu werden. Der hat nicht ganz so viel in seinem Kopf, wie er immer denkt. Ich habe alle Zeit der Welt.«

»Wenn du das sagst. Du kennst ihn schließlich am besten.«

Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich ihn überhaupt jemals gekannt habe. Hätte ich diese Seite von ihm gestern nicht zufällig zu Gesicht bekommen, würde ich dann noch immer so tun, als wären wir das perfekte Paar? Die gesamte Nacht lang habe ich mir genau darüber den Kopf zerbrochen. Und ich bin zu einer Einsicht gelangt, die leider etwas zu spät kommt: Hätte ich ihn wirklich gekannt, wäre mir dieser widerwärtige Charakterzug vorher aufgefallen und ich wäre schon längst nicht mehr in seinem Leben.

»Du kannst los, Venice.«

Collin fährt an uns vorbei und wir ducken uns unter die Fenster, bis das Geräusch seines Motors verklingt.

Ich öffne die Beifahrertür, steige aus dem Auto und überquere rasch die Straße. Nie wieder werde ich über diese Straße laufen, die sonst Teil meines täglichen Weges zur Uni war. Ich betrete das Wohnhaus durch die Tür und steige die Treppen nach oben. Dort stecke ich den Schlüssel ein letztes Mal in das Schloss und schiebe mich durch die Tür. Nur schnell meine Sachen holen und dann für immer von hier verschwinden.

Mein Blick wandert durch den offenen Wohnbereich, der so viel größer ist als der von Davina und so unpersönlich, dass er fast schon steril erscheint. Alles hat seine Ordnung. Die Stühle an dem Esstisch sind akkurat herangerückt. In einem Regal im Wohnzimmer reihen sich Collins Pokale, die er seit der Kindheit in allen möglichen Dingen erhalten hat. Von Bogenschießen im Sommercamp bis hin zu einem Schachwettbewerb, der letztes Jahr an der Uni stattge‐ funden hat. Von meinen persönlichen Dingen fehlt jede Spur. Das hier war nie wirklich mein Zuhause. Es war Collins Wohnung und ich bin einfach dazugezogen.
Collin hat ein Jahr vor mir die Highschool beendet und wollte unbedingt unabhängig von seinen Eltern sein, deshalb zog er her. Doch eigentlich bezahlen sie all das hier.

Als er damals den Wohnungsschlüssel bekommen hatte, konnte er es angeblich kaum erwarten, mit mir zusammenzuzie‐ hen. Ich war so fürchterlich naiv und verliebt in ihn und wäre am liebsten gleich eingezogen, doch er wollte sich vorerst auf sein Studium konzentrieren. Er kam nur zu mir, wenn er Zeit fand. Ich besaß nie einen Zweitschlüssel und wer weiß, was er hier ohne mein Wissen getrieben hat. In dem Bett, das wir uns später geteilt haben.

Frustriert schnaube ich leise, schüttele den Gedanken lieber wieder ab, laufe weiter und fahre gleichzeitig mit den Fingerspitzen über die Kommode, die ich gestern Morgen noch von Staub befreit habe. Hier sieht alles aus wie immer.

Kissing StrangersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt