Eglantine Rose

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Anmerkung:
Bei dieser Kurzgeschichte handelt es sich um ein Prequel zu meinem
Buch »Der Duft von Salz und Sonne«, das optimalerweise vorher
gelesen werden sollte. Dennoch ist »Eglantine Rose« so gehalten,
dass keine wichtigen Punkte gespoilert werden, bleibt daher in
manchen Aspekten aber auch vage.

*   *   *


Er fühlte sich wie unter Wasser.
Die Stimmen um ihn herum waren dumpf, rauschten.
Hörbar, aber unverständlich.
Das Gefühl in seiner Brust.
Eng, drückend, aber vor allem taub.
Er hatte begriffen, was geschehen war. Von Anfang an. Trotzdem war die Realität nicht richtig zu ihm vorgedrungen. Wie eine Geschichte, die man ihm immer und immer wieder erzählte, hatte er die Worte aufgenommen, akzeptiert, verarbeitet. Ein Teil der Wirklichkeit waren sie dadurch aber noch lange nicht geworden.
In seinem Kopf spielten sich die Szenen des Tages immer wieder ab. Der Scheiterhaufen. Der von Tüchern verhüllte Körper. Die Lagen des feinen Stoffs, unter dem sich die leblose Hülle dessen befand, was er einst als seine Großmutter gekannt hatte. Nun war sie weg und bloß dieses hagere, gebrechliche Stück Knochen und Fleisch war von ihr zurückgelassen worden.
Ein leerer Kokon.
Wie es sich gehörte, hatte er ihren Körper an diesem Tag den Flammen übergeben. Sie hatten das Fleisch von den Knochen gelöst, es verschlungen, zersetzt. Der Wind hatte ihre Asche mit sich genommen und würde dafür Sorgen, dass sie wieder eins mit dem Himmel sein konnte.
Dass sie weg war, tot, erreichte sein Inneres nicht. Er sagte es sich, immer wieder, versuchte es sich bewusst zu machen und dennoch verhallte es schlicht in seinem Herzen. Dass die Menschen, die er liebte, alle starben, war nichts Neues für ihn. Er hätte sich schon längst daran gewöhnen müssen.
Vielleicht war die letzte Zeit zu friedlich gewesen. V
ielleicht hatte er sich an das ruhige Leben ohne Kämpfe gewöhnt.
Vielleicht hatte er auch nur vergessen, wie man mit dem Tod umging.
Vielleicht.
»Jin.«
Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter und ihr Gewicht auf seinem Körper schleuderte seine Aufmerksamkeit regelrecht in das Jetzt zurück. Sein Blick wanderte den fremden Arm entlang. Über den Ellenbogen, bis zur Schulter, den Hals hinauf und blieb im Gesicht von Moishe hängen. Er war eigentlich der Fleischlieferant, zugleich aber auch ein Stammkunde im Restaurant seiner Großmutter.
Oder eher, war es gewesen.
Jetzt war alles anders.
Er war stämmig, aber für sein Alter auch kräftig. Die Arbeit hielt ihn fit. Seine zwiebelartige Nase thronte über dem warmen Lächeln, das er Jin schenkte.
»Sie schaut jetzt als Stern auf dich hinab und wacht über dich«, versicherte seine raue Stimme mit all dem Einfühlungsvermögen, das er besaß, bevor er seine große Hand hob und sie Jin noch einmal, zweimal auf die Schulter fallen ließ. Als könnte die Schwere des fremden Körperteils dem jungen Mann Trost spenden. Jin versuchte sich der Berührung zu entziehen, drehte seine Schulter weg. Die Berührungen waren ihm zu intim, auch wenn sie in dieser Situation selbst bei traditionellen Yuro als angemessen galten. Außerdem hatte er nicht viel für die Bekundungen über, die mit dem Tod einer geliebten Person einhergingen.
Alles schon gehört, alles schon selbst gesagt.
Die letzten Jahre in SK Window waren hart gewesen und er war froh, dass er es hinter sich gelassen, überlebt hatte. Ein Glück, das er vielen voraus hatte. Besonders in seiner Familie. Mit dem Tod seiner Großmutter war er der Letzte der Kawamuras, der noch über diese Welt wandelte.
Ihr Tod machte es offiziell.
Er war nun ganz allein.
Sein Blick ging an Moishe vorbei und wanderte durch das Restaurant. Gesichter von Gästen, Nachbarn. Leute, mit denen seine Großmutter befreundet war und die Jin gut kannte. Denen er Essen gebracht und die er bedient hatte, wenn sie als Kunden hier gewesen waren. Er wusste nicht, ob er irgendeinen von ihnen ernsthaft mochte. Jetzt jedenfalls standen sie hier, nach der Bestattung seiner Großmutter, sprachen über sie, teilten ihre Erinnerungen und flüsterten darüber, wie es mit Jin wohl weitergehen würde.
»Wenn du Hilfe brauchst-«
»Es geht schon«, unterbrach Jin den anderen Mann sofort, bevor er richtig anfangen konnte. Angestrengt versuchte er den Blick zu ignorieren, den Moishe ihm zuwarf, doch es half nichts. Die in Sorgenfalten gelegte Stirn, die nach oben gezogenen Augenbrauen, aber am furchtbarsten war das Mitleid, das jede Pore des Mannes aussonderte. Wie Säure verätzte sie Jins Haut, fraß sich durch sein Fleisch und löste seine Knochen auf, bis nichts mehr übrig blieb.
Sie alle sahen ihn so an. Und er hasste es.
»Ich mein nur, wegen... « Moishes Blick wanderte zu Jins rechter Schulter. Oder eher dorthin, wo sie sich befinden sollte. Dort, wo bei anderen ein Arm hing. Und bei Jin nichts.
Er schmeckte Galle auf seiner Zunge.
Diese Blicke und wie sie versuchten ihn unauffällig zu mustern, während sie nicht direkt hinsehen konnten - das gebot selbst der ihnen innewohnende Anstand - das alles degradierte ihn zu einem Krüppel. Sie machten ihn schwach, wo er es nicht war. Machten ihn zu weniger, als er wirklich war. Vermutlich hegte er deswegen gegen die meisten von ihnen eine gewisse Abneigung. Er wusste, was sie hinter seinem Rücken tuschelten. Sie gaben sich nicht sonderlich viel Mühe, es zu verstecken. Flüsterten so laut, dass er sie problemlos verstehen konnte. Er hörte die Gerüchte über sich. Viele nahezu lächerlich weit von der Realität entfernt, manche schmerzhaft nah dran.
Seine Großmutter war eine Märtyrerin für sie alle gewesen. Eine alte Frau, die ihrem vom Krieg verkrüppelten Enkel ein Zuhause gegeben hatte. Ihn auf ihre alten Tage mit durchbringen musste.
Das war Blödsinn.
Und tief in sich wusste er das.
An den meisten Tag jedenfalls.
Er sah nicht mehr nach viel aus, das stimmte. Er hatte seit dem Krieg viel abgenommen. Seine Wangen waren eingefallen, was auch die spärliche Gesichtsbehaarung nicht verdecken konnte und er hatte generell nicht sonderlich gut auf sich geachtet. Er war groß, was ihn noch schlaksiger wirken ließ. Sein dunkles Haar hatte er schon länger nicht schneiden lassen und seine Großmutter hatte ihm deswegen ständig in den Ohren gelegen. Wie er nur im Restaurant arbeiten konnte, mit all dem köstlichen Essen direkt vor der Nase, und trotzdem so wenig auf den Rippen, hatten die Leute stets gescherzt und sich für amüsant gehalten, während es ihm unangenehm war, darauf angesprochen zu werden. Das Essen hatte für ihn den Geschmack verloren. Es war von etwas, das man mit Genuss zu sich nahm, zu etwas Notwendigem geworden, dass er sich zuführen musste, um weiter zu funktionieren. Das verstand keiner von den Leuten hier. Niemand in der Vorstadt hatte jedoch erlebt, was er hatte durchmachen, mit ansehen müssen.
Seine Großmutter hatte das gewusst. Sie hatte ihn nie so angeschaut. Er war stets ihr Enkel gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Dankbar hatte er dafür täglich angepackt und die Dinge für sie erledigt, die sie nicht mehr schaffte. Auch, wenn er nicht danach aussah, war er immer noch stark.
»Vielleicht sollten wir besprechen, wie es mit dem Restaurant weitergeht«, versuchte Moishe das Gespräch weiter zu führen, doch Jin winkte ab.
»Nicht heute. Heute verabschiede ich mich. Mehr nicht.«
»Natürlich«, gestand der Fleischlieferant ihm widerstrebend zu. Es war offensichtlich, dass niemand von ihnen Jin zutraute, den Laden alleine weiterzuführen. Warum erschloss sich ihm nicht. Er hatte lange überall im Restaurant ausgeholfen, hatte genau genommen mehr gemacht als seine Großmutter, bis er zuletzt sogar unter ihrer Anleitung gekocht hatte, als ihre Beine sie nicht mehr so lange vor dem Herd stehen lassen wollten. Trotzdem wurde er behandelt, als wäre er unfähig. Hoffentlich würden sie bald endlich alle von hier verschwinden und ihn alleine lassen.
»Du hast das alles hier geerbt. Wir fragen uns nur, wie deine Pläne aussehen.«
»Kannst du es nicht einfach gut sein lassen, Moishe?« Jins Stimme war ruhig und er lächelte, sein Ton war jedoch bestimmt und gab unmissverständlich Preis, dass es ihm reichte. »Vielleicht geht ihr jetzt besser. Ich muss mich noch um viel kümmern.«
Moishe nickte entgeistert. Jin wusste, dass er unhöflich war, wenn er die Trauergemeinde hinauswarf. Damit konnte er jedoch leben. Er beobachtete, wie der Fleischlieferant sich zu den anderen Leuten gesellte und mit ihnen sprach. Einige warfen ihm entgeisterte Blicke zu, nickten jedoch, wenn ihre Augen auf seine trafen. Langsam, beinahe schon provokant, schoben sie sich Richtung Tür, murmelten ihm Worte des Beileids zu. Moishe ging als letzter und hob flüchtig die Hand zum Abschied, ehe er die Tür hinter sich ins Schloss zog. Die kleine Glocke über der Tür begleitete ihr Verschwinden und war wie der erlösende Gong in einem Boxkampf. Jins Lungen entwich schlagartig ein ganzer Stoß Luft, den er angespannt in sich eingeschlossen hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Endlich konnte er durchatmen. Er spürte das Blut wieder zirkulieren, Ruhe in sich zurückkehren.
Sein Blick wanderte durch den Laden, der von der spärlichen Beleuchtung in ein warmes Licht getaucht war. Er liebte das Restaurant am Abend. Viel altes, dunkles Holz. Knarrender Dielenboden. Ein Geruch, der ihn an seine frühe Kindheit erinnerte, die er zwischen den Tischen spielend hier verbracht hatte, ehe er mit seinen Eltern in das Stadtzentrum gezogen war. In jeder Ecke des Raumes konnte er seine Großmutter sehen, die mit Gästen scherzte und ihr vergnügtes Kichern, dass sie immer für dessen Dauer jung klingen ließ, hallte in seinen Ohren wider.
Er ging zu einem der Tische hinüber, an dem sie abends stets über den Abrechnungen gesessen hatte.
Die Form ihres kleinen, gebeugten Körpers hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt.
Ihre Brille, deren Gläser dick waren und dessen Gewicht das Gestell immer wieder ihre Nase ein wenig hinabrutschen ließ.
Die automatische Handbewegung, welche die Brille immer wieder in Position schob und die seine Großmutter schon gar nicht mehr bewusst wahrnahm.
Wie sie ihren Kopf hob und ihn anlächelte, wenn sie bemerkte, dass er sie aus der Ferne beobachtete.
Dies war eine der schöneren, friedvollen Erinnerungen, die er im Geiste sah, wenn er die Augen schloss.
Nun jedoch war es leer.
Niemand war mehr da.
Nur er.
Wie immer blieb nur er übrig.
Es war wie verflucht.
Er löschte die Lampen im Laden und ließ einen Lichtzauber erscheinen, der ihm beharrlich folgte, während er die Treppe nach oben erklomm. Unter jedem seiner Schritte ächzte das alte Holz. Sein Blick ging flüchtig zu der geöffneten Zimmertür, nahm für einen Moment den Raum wahr, in dem seine Großmutter gewohnt hatte und der nun nicht mehr erleuchtet war, wenn er ins Bett ging, sondern in völliger Dunkelheit verborgen lag. Er stieg etwas weiter hoch in die kleine Dachkammer, in der er sein Zimmer hatte. Die Dachschrägen ließen für einen großen Mann wie ihn nur wenig Bewegungsfreiraum. Lange Zeit hatte er sich ständig den Kopf gestoßen, bevor es ihm in Fleisch und Blut übergangen war, auf die Wände zu achten. Als er hierher gezogen war, hatte die Kammer als Abstellraum gedient und tat es zum Teil noch immer. In der hinteren Ecke des Raumes lagerte allerhand Kram aus dem Restaurant sowie Dinge, von denen sich seine Großmutter nicht hatte trennen können. Für einen Moment war er versucht, der Nostalgie zu erliegen und die Dinge zu durchstöbern, die seine Großmutter auf dieser Welt zurückgelassen hatte. Aber auch nur für einen Moment. Er sagte sich, dass er niemand war, der an der Vergangenheit hing. Immer wieder. Dabei wusste er zu jeder Sekunde, dass er sich selbst belog.
Die Haori-Jacke, die er trug, streifte er ab und legte sich auf sein Bett. Sein Blick haftete an der Wand über ihm, fuhr die Maserung des Holzes nach. Er versuchte ruhig zu atmen, seine neue Realität in sich aufzunehmen.
Manchmal war ihm die Leere im rechten Ärmel seines Shirts schmerzhaft bewusst.
Heute war so ein Abend.
Wie lang war es her, seit er zu seiner Großmutter gezogen war? Keine anderthalb Jahre? Konnte hinkommen.
Er streckte seinen Arm aus, konzentrierte sich einen Moment. Bevor er den Griff des Schwertes sehen konnte, spürte er dessen Gewicht schon in seiner Hand und packte zu, als es sich materialisierte. Wenn er nachts alleine in seinem Zimmer war, beschwörte er oft seine Waffe. Es war bitter, an seine Zeit als Schwertkämpfer zurück zu denken. Er war gut gewesen, sehr gut. Jetzt trainierte er auch noch, heimlich. Aufzugeben, wer er einmal gewesen war, schien ihm keine Option zu sein. Doch mit der linken Hand war er ungeschickt, langsam und unsicher. Vielleicht war das seine gerechte Strafe. Wobei, vermutlich hatte er Schlimmeres verdient. Erinnerungen an den Tag, an dem er seinen Arm verloren hatte, wollten sich in sein Bewusstsein schleichen, doch er hatte Übung darin, sie wieder zu verscheuchen. Am Ende konnte er nicht klagen. Alles, was zum Verlust seines Armes geführt hatte, lies ihn letztendlich besser mit sich selbst leben. Sein Blick wanderte zur Uhr. Es war noch früh. Zu früh, um zu schlafen. Er ließ das Schwert in seiner Hand verschwinden und zögerte kurz, bevor er sich dennoch unter seine Bettdecke legte und die Augen schloss.
Der Tag sollte nur schnellstmöglich herumgehen.

Eglantine RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt