Kapitel 32

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Phil:

Ich sah in einfach weiter an. Wartete, dass er fertig wurde. Es rausgelassen hatte. Sich vielleicht beruhigen würde. Als er irgendwann eine kurze Pause machte, begann ich vorsichtig: "Können wir das ganze vielleicht mal für eine Sekunde vergessen und über Laura reden?" Ich sah ihn eindringlich und ein wenig flehend an. "Danach kann ich auch gehen!", fügte ich mit leiser Stimme hinzu. Er schwieg, ich nahm das mal als Zustimmung. "Es geht ihr wirklich nicht gut, weißt du?" Er schwieg wieder nur, sah mich einfach mit einem komischen Blick an, den ich nicht wirklich deuten konnte. Das ärgerte mich, erweckte meine Wut wieder zum Leben. Dieses Schweigen. Es gab mir das Gefühl, sie wäre ihm egal. Wäre ihm nicht wichtig. "Verdammt, ist sie dir eigentlich egal?" Ich schrie jetzt, konnte nicht mehr ruhig bleiben. Ließ meine Wut heraus, anstatt sie zu unterdrücken. Wieder schwieg er. Ich konnte nicht mehr klar denken, wurde von meiner Wut überwältigt. "Sie ist deine Tochter!" Er zuckte nur mit den Schultern. Sah mir nicht in die Augen. Jetzt tat er mir nicht mehr Leid. Nicht wirklich. Natürlich war es schlimm, seine Frau zu verlieren. Aber er hatte schließlich noch eine Tochter, um die er sich kümmern musste. Es jedenfalls tun sollte. Hatte er sich nie vor Augen geführt, wie schlimm die Situation auch für Laura war? Anscheinend nicht. Er hatte nur an sich gedacht, war ein verdammter Egoist!

"Sie ist dir egal", stellte ich fest. Er öffnete den Mund, vielleicht um zu protestieren, vielleicht um mich weiter anzuschreien. Aber ich schnitt ihm das Wort ab. "Jetzt versuch nicht, mir was anderes zu erzählen. Wenn sie dir nicht egal wäre, hättest du gemerkt, wie schlecht es ihr geht. Was sie sich antut. Du hättest ihr helfen können!" Die Wut und der Vorwurf in meiner Stimme waren nicht zu überhören. Er starrte mich an, sah ziemlich geschockt aus. Vielleicht hatte er nicht mit so einer Reaktion gerechnet, denn sonst hatte ich mich immer beherrscht. Doch jetzt wollte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich wollte mit drei großen Schritten zu ihm gehen. Ihm meine Faust ins Gesicht rammen. Ihn schlagen. Ihm wehtun. Ihn spüren lassen, was er ihr angetan hatte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, wollte gerade loslaufen, als ich innehielt. Er war verletzt und außerdem war er mein Bruder. Auch wenn das nicht entschuldigte, was er getan hatte, ich konnte ihn nicht schlagen. Selbst wenn er es verdient hatte, selbst wenn er dann vielleicht einsehen würde, was er getan hatte. Ich konnte es nicht tun, dann wäre ich nicht besser als er. Und tief in mir drin wusste ich, dass Gewalt keine Lösung war. Nicht wirklich.

Verzweifelt kämpfe ich gegen die Wut in mir an, ich musste sie verdrängen. So weit verdrängen, dass ich wieder klar denken konnte. "Warum sollte ich ihr helfen? Du hast mir schließlich auch nicht geholfen. Keiner hat mir geholfen!" Seine plötzliche Antwort erschreckte mich und kam nach seinem langen Schweigen sehr unerwartet. Ich wollte etwas sagen. Ihm klar machen, dass es nicht nur meine Schuld gewesen war. Dass auch er Schuld daran hatte. Dass das kein Grund war, sie so zu vernachlässigen. Aber ich schwieg einfach. Es hatte keinen Sinn, würde nichts bringen. "Es geht hier nicht um unseren Streit, es geht um Laura. Du trägst Verantwortung für sie, und...". Mein letzter, verzweifelter Versuch ihm ins Gewissen zu reden, wurde von ihm unterbrochen. "Es ist mir egal", schrie er mir entgegen. Wieder kochte Wut in mir hoch, mein Puls beschleunigte sich. Wieder wollte ich auf ihn losgehen, ihm wehtun. Mein Kopf war wie leergefegt, ich funkelte ihn wütend an. Ganz hinten in meinem Kopf formte sich eine Erkenntnis. Ich warf ihm noch einen letzten Blick zu, in den ich all meine Wut legte. Dann drehte ich mich um. Öffnete die Tür. Trat auf den Gang hinaus. Sah mich um. Und lief dann einfach in irgendeine Richtung los, wollte einfach weg. Weg von ihm. Weg von meiner Wut, so heftigen Wut, wie ich sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Weg von meinen Erinnerungen, die mich einzuholen drohten. Weg von diesem verdammten Einsatz. Weg von der ganzen Scheiße hier.


690 Wörter

Wenn ich jetzt sterben würdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt