Prolog

9 0 0
                                    




Es ist schon traurig.

Mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzt du da, in deinem vornehmen Hosenanzug, in dem du lächerlich klein wirkst, und der ein wenig zu weit über deine blassen Knöchel gerutscht ist.

Unter deiner milchig weißen Haut kommen feine blaue Adern zum Vorschein. Das ist mein Fixpunkt. Du siehst aus wie jemand, der die Sonne schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hat, wahrscheinlich weil du viel arbeitest. Der Vitamin-D Mangel macht dich müde. Wenn du versuchst mich anzulächeln kann ich auch ohne den Kopf zu heben spüren, wie deine Mundwinkel auf halbem Wege erfrieren. Es ist schwer zu lächeln, wenn es dafür schon so lange keinen Grund mehr gibt, nicht wahr? Du weißt das, und deshalb erwartest du es auch nicht von mir. Niemals. Und trotzdem verstehst du mich nicht.

Du wirkst verloren in deinem mit grünem Samt überzogenen Sessel, der Stift in deiner Hand schlägt leise aber stetig gegen das Klemmheft auf deinem Schoß. Was hast du dir heute über mich aufgeschrieben?

Deine penible Handschrift und die geschwungenen Lettern, die ich manchmal erhasche, wenn du deine Notizen senkst um mir einen „dieser Blicke" zu schenken, machen mich wahnsinnig. Ich fühle, dass es dich rasend macht, und auch ein bisschen unsicher, dass ich dir schon wieder nicht antworte. Das macht die mangelnde Berufserfahrung. Du gehst ständig davon aus, einen Fehler zu machen. Zum dritten Mal atmest du etwas zu laut und etwas zu lange aus, und wir wissen beide, dass wir heute zu nichts kommen werden. Und auch nicht an einem anderen Tag.

Irgendwann wirst du gegen einen neuen, abgeklärteren Therapeuten ausgetauscht, wie auch du den letzten und dieser wiederum seinen Vorgänger abgelöst hat. Ihr alle seid so unfassbar bemitleidenswert. Ihr behandelt mich wie ein zerbrochenes Glas, dessen Scherben man mit viel Geduld und Feinmotorik wieder zusammensetzen kann, und ehe man sich versieht ist alles wieder so wie es einmal war. Zwar nicht ohne hinterbliebe Narben, aber immerhin funktioniere ich dann wieder. Nur leider gibt es meine Scherben nicht mehr. Und ihr könnt nicht etwas zusammensetzten, das ihr gar nicht besitzt.

Meine Scherben liegen unter der dunklen, feuchten Erde auf dem Spielplatz hinter der Kirche, sie liegen in dem Keller des alten Brixton Manson und in Zimmer 243 im Springs Peal. Sie liegen unter meinem Bett und in dem alten Schrank unter der Schräge. Und wenn ich meine Augen schließe, dann küssen sie meine Lippen.

Du beugst dich ein wenig nach vorne, weil du hoffst, dass du so meinen Blick fängst. Deine Knöchel drehen sich leicht nach außen, wodurch eine der bläulich schimmernden Adern gefährlich weit hervortritt. Blaues Blut. Du bist die Verkörperung des aristokratischen Abschaums.

Es macht mich wütend das du dir anmaßt, mich verstehen zu können. Ich fange dein Parfum ein und der Duft von Pfingstrosen und Lilien trägt mich zurück zum letzten Sommer. Ich liege auf einer Wiese gebettet in Blütenstaub und Klee. Ich laufe Hand in Hand mit einem Jungen die NW 3rd Street herunter, während die schweißdurchtränkten Klamotten an unseren Körpern kleben.

Ich schmecke Blut, als ich nach vielen vielen Stunden des bewusstlos Seins endlich wieder aufwache.

Als der Sommer starbWo Geschichten leben. Entdecke jetzt