08 | Blue painted fence

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Grace hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Obwohl der Alkohol einen süßen Schlaf versprochen hatte, kam sie einfach nicht zur Ruhe. Immer wieder hatte sie durch ihr kleines Dachfenster zu dem Anwesen der Flamings herüber gespäht, in der Hoffnung, wenigstens einen Schatten in einem der hell erleuchteten Fenster erkennen zu können. Doch sie wartete vergeblich.

An den darauffolgenden Tagen machte Lucas sich rar. Er antwortete auf keine ihrer Nachrichten, zeigte sich auch nicht im Garten oder auf der Veranda. Nur einmal konnte sie einen kurzen Blick auf ihn erhaschen, als der blaue Ford Mustang zur selben Zeit wie jeden Tag in einem rasenden Tempo an ihrem Haus vorbei gedonnert war.

Lucas hatte sich auf seinem Sitz ganz klein gemacht und nur zögerlich eine Hand zum Gruß erhoben. Erleichtert stellte Grace fest, dass keine neue Verletzung sein Gesicht zeichnete. Vielleicht war ihr Verdacht ja doch unbegründet gewesen.

Grace wollte kein Grund einfallen, der Argus so wütend gemacht hatte. Zugegeben, den Tequila aus der Vitrine zu entwenden und komplett auszutrinken war sicher keine besonders schlaue Idee gewesen, auch wenn sein Sohn genau genommen das meiste davon getrunken hatte. Dennoch war keiner von ihnen bereits 21 und sie alle hatten den goldgelben Schnaps getrunken, was in Ohio so wie im Rest der USA strafbar war. Aber sie lebten in Loveland! Hier passte man aufeinander auf. Wenn ihre Eltern sie bisher mit einem Schwips erwischt hatten, musste sie schon früh am Morgen aus den Federn und irgendeine Strafarbeit verrichten. Meist musste sie das Auto ihres Vaters putzen. Das viele Bücken war dabei jedes Mal so unangenehm für ihren pochenden Kopfschmerz, dass es tatsächlich eine Weile vorhielt und sie nicht einmal Bier anrühren wollte.

Grace konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Lucas deswegen in großen Schwierigkeiten steckte. Warum aber meldete er sich dann nicht mehr? Auch Chris und Ruby hatten bereits vergeblich versucht, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken, für den Fall, dass er Grace nicht sehen wollte. Sie fühlte sich hundeelend, ihn an dem Abend allein gelassen zu haben. Um einfach rüber zu gehen fehlte ihr nach ihrer letzten Begegnung mit Argus jedoch der Mut.

In ihrer Verzweiflung und Sorge um Lucas weihte sie sogar ihre Eltern in das Geschehene mit ein. Insgeheim hoffte sie, dass weder Ruby noch Chris dieses Detail jemals erfahren würden. Die Eltern zu informieren glich einem Hofverrat! Doch Grace sehnte sich nach Verbündeten, die ihr versicherten, es sei nicht ihre Schuld gewesen.

„Ich habe gestern diesen Argus Flaming getroffen", berichtete ihr Vater abends am Esstisch.

Interessiert hob Grace den Kopf.

„Er hat mich um Rat gefragt. Scheinbar hat sein Sohn schon früher in Cleveland öfter für Probleme gesorgt."

„Blödsinn!", entfuhr es Grace viel energischer, als ihr Vater es verdient hätte.

„Grace!", erklang die scharfe, unverwechselbare Stimme ihrer Mutter. Ein Tonfall, wie ihn nur eine wahrhaftige Mutter beherrschte.

„Wir wissen nicht, was er mit dem Jungen schon durchgemacht hat. Ich denke, er macht sich ehrlich Sorgen um Lucas!", ergänzte sein Vater und sah seine Tochter mitfühlend an.

„Und die Lippe?" Grace erkannte ihre Stimme kaum wieder, die sich erstickt jedes ihrer Worte abmühte.

„Es war sicher ein Unfall! So wie es der Junge gesagt hat", beschwichtigte ihre Mutter deutlich einfühlsamer als zuvor.

„Deine Mutter hat Recht! Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Mann Hand an seinen Sohn legen würde!"

Für den Bruchteil einer Sekunde saß Grace regungslos da, ging die Worte ihrer Eltern noch einmal Silbe für Silbe im Kopf durch. Dann erhob sie sich unter dem lauten Knarzen ihres Stuhls und stapfte ohne ein weiteres Wort wütend in ihr Zimmer. Entmutigt schmiss sie sich auf ihr Bett. Vor lauter Wut schossen ihr Tränen in die Augen. Nun hatte dieser Argus nach ihrer Mutter auch noch ihren Vater für sich gewonnen! Wenn sie doch nur mit Lucas über all das reden könnte. Ob er sauer auf sie war? Bei diesem Gedanken brachen alle Dämme und Grace weinte sich leise wimmernd in den Schlaf.

𝑬𝒊𝒏𝒆 𝒉𝒊𝒎𝒎𝒍𝒊𝒔𝒄𝒉𝒆 𝑾𝒆𝒕𝒕𝒆Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt