Der Stuhl

98 13 137
                                    

Kaleo und Ilja saßen an der Theke, mehr oder weniger in ihre Bücher versunken. Runa trocknete Gläser ab. Bis auf sie drei war niemand in der Kneipe. Für den Morgen des ersten Tages der Woche, den Parmera, war das nicht weiter verwunderlich. Das Thekenmädchen stellte das trockene Glas zu den anderen, die schon bereit fürs Regal waren. Aber anstatt die sauberen Gläser sofort an ihren Platz zu stellen, schlichtete Runa sie zuerst nebeneinander auf und räumte sie dann geschlossen zurück. Kaleo fand diese Methode reichlich unpraktisch. Doch jede Diskussion mit ihr, dass die Methode auch zu zeitaufwendig war, war sinnlos. Freiwillig stellte sie sich einige Stunden früher hinter den Tresen oder blieb länger, wenn es hieß, sie konnte ihr System beibehalten. Sie brauchte diese geordnete Reihenfolge. Von nass zu trocken, von rechts nach links und all das gesammelt.

Diese umständliche Seite bekam aber nur er mit. Zumindest war das vorher so gewesen. Jetzt war da auch Ilja, der sich zu ihrer Marotte noch nicht geäußert hatte. Vielleicht hatte er sie auch nicht bemerkt, da er viel zu sehr auf seinen dicken Wälzer fixiert war. So blieben ihm auch die schmachtenden Blicke des Thekenmädchens verborgen.

In diesem Moment war aber Kaleo es, der um jemandes Aufmerksamkeit buhlte und zwar um Runas. Er wollte sie dazubringen, sein Buch zur Hand zu nehmen und vor Ilja zu lesen, dass sie hoffentlich darüber ins Gespräch kamen. Wie er den Nitaru dazu brachte, aufzublicken, musste er noch herausfinden.

Er schob ihr das Buch über den Tresen und in ihr Blickfeld, dass sie es beim nächsten Glas, das sie zum Trocknen zur Hand nahm, sah. Das tat sie auch, doch runzelte bloß die Stirn und sah ihn fragend an.

Gläser weg und lies", forderte er sie mit einem Nicken Richtung Ilja auf. Das Thekenmädchen folgte seinem Nicken und ein schüchternes Lächeln breitete sich über ihrem Gesicht aus. Mit fahrigen Fingern legte sie das Geschirrtuch ab und stellte das halbtrockene Glas daneben, wobei es fast hinuntergefallen wäre. Glücklicherweise schnellte Kaleo vor und hielt es fest. Er hatte sie selten so nervös gesehen. Dabei waren sie noch nicht einmal beim Gespräch angelangt.

Ruhig. Scherben bringen hier auch nichts. Du sollst bloß lesen", versuchte er Runa von ihrer Aufregung herunterzubringen. Schnaubend verdrehte sie die Augen, griff sich aber das Buch, drehte es richtig herum und nach einigem Blättern begann sie zu lesen. Runa mochte noch so viel gegen seine „Witze" haben, doch sein Unterricht hatte ihr in den letzten Viert, die aus sechs Tagen bestanden, geholfen und sie war um vieles besser geworden.

Zugegeben mit den wenigen Worten, die zur Verfügung standen, waren sie bald an eine Grenze gelangt und hatten mehr Zeit auf das Verinnerlichen der Buchstaben verwenden können als er damals. Trotzdem beeindruckte ihn ihr Fortschritt. Kaleo fühlte dieses Kribbeln und wie ihm um den Nacken warm wurde. Sie beeindruckte ihn, aber diesen Gedankengang wollte er nicht vertiefen und stupste dafür Ilja an. Dieser blickte auf und in seinen Augen stand die unausgesprochene Frage, warum Kaleo ihn denn unterbrach. Soweit Kaleo mitbekommen hatte, aus seinen eigenen Beobachtungen und Schilderungen Runas, verwendete der Nitaru kaum seine Hände zum Sprechen. Erst die Bekanntschaft mit Runa und die Tatsache, dass es auf ihrem Arbeitsweg kaum andere Kommunikationsmöglichkeiten gab, hatten Ilja dazu gebracht, die Hände öfter zu benutzen. Angeblich gehörte seine Mutter den Fanatikern an, die selbst die Gebärdensprache als Verschwendung von Worten ansahen. Sie glaubten, die Große Stille wäre eine Strafe, von Faleyatos verhängt, da der Weltenwalpapagei unglücklich mit der „Verunreinigung der Sprache", wie sie es nannten, war.

Kaleo liebte es mit ihnen zu diskutieren, auch wenn es oft zermürbend war, da die Fanatiker, um Gebärden zu vermeiden, auf die umständlichsten Alternativen zurückgriffen- Blumen und Tanz. Ästhetisch waren diese beiden die Vorreiter, aber sie führten auch zu den größten Missverständnissen.

Ich muss mal kurz austreten", ließ er den Nitaru wissen. Der nickte nur mit einem Stirnrunzeln, blickte zu Runa und hielt inne. Mission erfüllt! Kaleo schmunzelte und glitt vom Hocker. Seine Aufgabe war erfüllt, jetzt war es an dem Thekenmädchen, ihren Charme spielen zu lassen.

Als er sich nach draußen zurückzog und dabei versuchte er so wenig Lärm wie möglich zu machen – Das Glöckchen an der Tür durchkreuzte seinen Plan- wollte sich aber dieses Triumphgefühl, einer Freundin geholfen zu haben, ihrem Schwarm näherzukommen, nicht wirklich einstellen. Er war froh, dass sie lesen konnte und glücklich war, doch es war nur ... er würde ihre gemeinsame Lernerei vermissen. Nachdem es keine neuen Worte gab, konnte er ihr auch nichts Neues beibringen und außerdem saß sie mit Ilja und unterhielt sich vermutlich über das Buch. Ihre Abmachung war also erfüllt. Die Getränke, die er ab nun wieder zahlen müsste, waren ihm dabei egal. Tatsächlich dachte er kaum an sie. Seine Gedanken füllte nur das Mädchen hinter der Theke. Die geblähten Nasenflügel, die roten Flecken auf Wange und Stirn und die zusammengepressten Lippen, immer wenn sie wüten oder genervt war. Wie sich eine Furche zwischen ihren Augenbrauen formte, wenn sie sich konzentrierte. Ihre fließenden Handbewegungen, die jede Äußerung von ihre wie einen Tanz erscheinen ließen. Ihr rhythmischer Gang, der gleichzeitig forsch und bestimmt war.

Ohne es zu bemerken hatte Kaleo begonnen, an die Hauswand, an der er lehnte, zu klopfen. Dazu summte und stampfte er. Sinnierend über Runa komponierte er eine Melodie für sie. Die Bilder, wie sie sich geistesabwesend über eine kleine Narbe am Ohrläppchen strich oder wie sie Gläser wegräumte, wurden in seinem Kopf zu einem Lied. Einer Symphonie ohne Worte, das ihren Namen trug. Hätte er seine Arpatara, ein geschwungenes Musikinstrument mit zwei Hälsen, auf das Saiten gespannt waren, bei sich, hätte er das Lied sofort in Saiten gebannt.

Ein Schnipsen und Gefuchtel vor ihm riss ihn aus seiner Trance. Runa stand vor ihm und gestikulierte so wild, dass er kurz brauchte, um einen Sinn in den Bewegungen zu erkennen. Das strahlende Lächeln, das von einem Ohr zum anderen reichte, verstärkte das warme Gefühl überall in seinem Körper. Endlich konnte er Sinn aus dem Gefuchtel entziffern.

Worte kommen zurück. Komm mit!" Runa wartete nicht länger auf eine Reaktion von ihm, sondern zerrte ihn mit sich wieder hinein ins Majestätsloch, wo Ilja genauso aufgeregt auf sie wartete. Der Nitaru hielt das Buch, das Kaleo zuvor Runa gegeben hatte hoch und deutete auf die Seite. Erst jetzt sickerte zu ihm durch, was genau gerade geschah.

Worte kamen zurück! Derr Zauber des Hormetoskönigs, der die Tilgung verursacht hatte, war erneut durchlässig geworden. Er stürmte zu dem Nitaru und zu dritt starrten sie auf das Buch. Sie beobachteten erst einen Buchstaben, dann einen zweiten, einen dritten auf der Seite erscheinen.

S

St

Stu

Stuh

Stuhl.

Beinahe automatisch klopfte Kaleo es mit. Die Freude über das neue alte Wort surrte in ihm, machte seinen Kopf ganz leicht und er dachte, er müsste gleich platzen. Überschwänglich fiel er zuerst dem Nitaru um den Hals und danach Runa. Er wirbelte sie durch die Luft und stellte sie anschließend wieder auf den Boden. Seine innere Aufgewühltheit spiegelte sich in ihrem breiten Grinsen. Das Thekenmädchen befreite ihre Hände, um zu sprechen. Als er merkte, dass er sie immer noch in Armen hielt, trat er auch einen Schritt zurück und beobachtete Runa genau, die nach einem Seitenblick auf den in das Buch vertiefte Ilja schnell gestikulierte.

Was war der-", sie zeichnete ein Kreuz in die Luft, „-für ein Buchstabe?"

Kaleo überlegte kurz, klatschte dann kurz in die Hände und deutete danach mit dem Handrücken zu Runa nach links und streckte den Daumen in die Höhe. T. Sie wiederholte das Klatschen und die Gebärde, dann nickte sie und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange.

Die Hand am Kinn stieß sie sich ab und rauschte zu Ilja ab, um mit dem Nitaru weiter das Wort zu bewundern. Kaleo stand da, den Mund leicht geöffnet, geröteter Nacken und dachte, einen besseren Tag wie heute konnte es nicht geben.


Der Klang der WorteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt