ZWEI - Die Dunkelheit

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Großmutter hustete, murmelte und wälzte sich von einer auf die andere Seite. Was sollte Bea nur tun? Ein Glas Wasser! Die Worte ihrer Mutter hallten in ihrem Kopf wie die Geige in einem Opernhaus. Jeder Ton fuhr ihr durch den Körper und nistete sich in ihrer Brust ein. "Gib ihr ein Glas Wasser und einen kalten Lappen!", hatte die Mutter gesagt.

Also hetzte Bea hinüber ins Badezimmer, stolperte über die Türschwelle und ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Zeh. Doch sie fluchte ihn fort und der kleine Schmerz blieb auf der Stelle hocken, wartete, bis der nächste Fuß kam. Bea stürmte ins Bad, beinahe wäre die blaue Holztür gegen die Duschkabine geknallt. Bea atmete einmal tief ein, hielt die Luft tief unten im Bauch wie einen Ballon. Sie musste sich beruhigen. Alles ok, kein Grund zur Panik!

Sie schnappte sich den Zahnputzbecher, wusch ihn aus und füllte kaltes Wasser hinein. Das Wasser sprudelte und spritzte ihr auf die Finger, auf die Arme und auf ihr Kleid. Die Aufregung sprudelte und spritzte ebenso aus ihrem Bauch herauf in den Hals und sie musste kichern, damit es nicht darin stecken blieb. Noch ein bisschen laufen lassen, es beruhigte sie irgendwie und Bea konnte wieder denken. Großmutter! Sie musste zu ihr.

Bea trat über die Türschwelle und über den wartenden Schmerz. Doch nun wartete auch schon das nächste Unheil auf sie. Wer hat das Licht da draußen ausgeknipst? Bea blieb stehen, ließ ihren Blick durch das dunkle Zimmer schweifen. Sie sah die Umrisse des Bettes, wo Großmutter drin lag, den Stuhl daneben, das Fenster die Wände.

Das tanzende Sonnenlicht war verschwunden. Von einen auf den anderen Moment. Ein Gewitter? Oh nein, bitte kein Gewitter! Das war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. Die Mutter war immer noch dort oben in den Bergen. Dort oben zu sein, bei Gewitter, war wie über ein Brückengeländer zu balancieren. Oder über dünnes Eis zu spazieren. Oder wie Fabian zu sagen, dass Bea Herzklopfen bekam, wenn sie ihn sah. Von alledem sei abzuraten.

Bea ging zu Großmutter. Sie tastete nach dem Nachtkästchen, knipste die Lampe an, stellte das Glas neben das Foto, von dem ihr Mama, Großmutter und sie selbst - einige Jahre jünger - entgegen lächelten. Das war Mamas Geburtstag, Bea erinnerte sich genau. Sie hatte ihrer Mutter an diesem Tag das erste Mal einen selbstgepflückten Blumenstrauß geschenkt und war stolz wie ein junges Reh, das die ersten Schritte macht.

Ein Brodeln fuhr durch das Zimmer, bis in Beas Füße und Beine hinein. Tausende kleine Käfer krabbelten hinauf - so fühlte sie das zumindest an. Es donnerte wie ein Paukenschlag und die Erde erzitterte. Grüne Lichtblitze durchzuckten den Raum. Die Stille wurden zerfetzt und zerplatzte wie ein Luftballon. Die Welt geriet aus den Fugen. 

Doch warum dieses Grün? Das waren keine gewöhnlichen Blitze. Bea ging zum Fenster und was sie dann sah, vereiste ihre Blutbahnen und lähmte ihre Muskeln. "Meine Güte!", murmelte sie. Was verdammt nochmal war das nur? Sie blickte zu ihrer Großmutter, die sich unruhig hin und herwälzte. Bekam sie etwas mit oder hatte sie Fieber? Ihre Augen jedenfalls waren geschlossen. 

Bea ging um das Bett herum, fuhr mit der Hand über die Decke, als wollte sie sich daran festhalten. Sie öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Ihr Blick war fest auf den Berg geheftet. Auf den Gipfel und auf das, was dort oben war. Bea konnte das Bild, was sie sah, nicht mit den Bildern, die sie kannte, verbinden und so kollabierten ihre Gedanken wie ein heiß gelaufener Computer. Ihre Gedanken stürzten ab - sozusagen.

Der Wind nahm zu. Er heulte durch die Wege und um die Häuserecken herum. Wie ein Ungeheuer trieb er dort draußen sein Unwesen und untermalte es lautstark. Dabei zog er die Dunkelheit mit sich, nur die Sterne und der Mond gaben etwas Licht ab, nur soweit, dass man Umrisse erkennen konnte. 

Die Bäume ächzten wie schwer arbeitende Menschen, die Äste knarzten, als brächen sie jeden Moment auseinander wie zu dünne Knochen. Das Laub rauschte, als läge das Meer vor der Tür - die Natur rundherum war bis aufs letzte Sandkorn in Bewegung. Ein Konzert der Bäume, Sträucher und des Windes. Dirigiert von den lautlosen Blitzen, die nicht vom Himmel kamen, sondern - vom Berg.

Plötzlich hörte Bea Stimmen. Eine tiefe und eine helle. Eine Tür knallen. Treppen knarzen. Dann riss jemand die Tür zum Zimmer auf und Bea beobachtete durch einen Nebel, wie ihre Mutter und - scheinbar ein Arzt - hereinkamen und zu Großmutter eilten. Sie schlugen die Decke zurück. Der Mann legte seine Hand auf Großmutters Stirn. Er musste sich weit beugen, denn er war riesengroß.

Bea sah das alles, als wäre sie unter Wasser. Die Stimmen verzerrt, das Bild der Personen verschwommen. Noch immer bebte die Erde, Wände wackelten und dann dieses ohrenbetäubende Rauschen. Und immer wieder dieses Bild von dem riesengroßen Ding, das sich auf den Gipfel des Berges hinab gesetzt hatte. Wie ein Teller mit Lichtern. Grüne Lichter, die bis zu Bea strahlten. Dieses seltsame Ding war der Dirigent des Unwetters. 

Von dieser Sekunde an konnte Bea nichts mehr fühlen. Das Leben änderte sich innerhalb eines Donnerschlages. Eine Tür wurde geschlossen. Ihr eine Brille aufgesetzt, Fesseln angelegt und die Gedanken - wie Kaugummi - so zäh und gelähmt. Die Großmutter, die Mutter und die Wände des Zimmers, all das rückte von Bea weg. Doch das Rauschen des Sturms rückte umso näher. Die Blitze vom Berg strahlten umso heller. 

Es war, als wären ihre Emotionen, Gedanken und Erinnerungen aus ihr herausgesaugt worden. Sie sah alles und konnte nichts mehr empfinden. Als würde sie träumen. Der Arzt gab Oma eine Spritze, Mama löffelte ihr das Veilchen-Serum in den Mund und Bea stand nur da und sah zu, wie bei einem Theaterstück. Nur, dass keiner dabei klatschte.

Bea le Papillon (LESEPROBE)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt