Das unzufriedene Mädchen

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Marie Wolf war ein junges Mädchen mit einem hübschen Gesicht und einer eleganten Figur. Sie besaß lange, dunkle Locken, die ihr glänzend und voller Grazie über die Schultern fielen und ein blasses, markantes Gesicht mit funkelnd braunen Augen, dunklen Lippen und hohen Wangenknochen. Marie war schön. Doch in ihrem Inneren brodelte ein wilder, unzufriedener Zorn, der so rot und dunkel glühte wie flüssiges, heißes Magma.

Dieser Zorn erfüllte Marie in den letzten Tagen häufig. Auch heute. Mit festen Schritten und mürrischem Gesicht, stapfte sie durch das kleine Städtchen, in dem sie wohnte.

Die Sonne strahlte in einem warmen, freundlichen Gold vom Himmel und warf ihre glitzernden Strahlen auf die Dächer der roten Backsteinhäuser. Marie schimpfte leise vor sich hin und kniff verärgert die Augen zusammen, als die Strahlen von den Schaufenstern der Gasse reflektiert wurden und grell blendendes Licht zurückwarfen. Die fröhliche, goldene Stimmung des Wetters passte so gar nicht zu ihren üblen, schwarzen Launen.

Marie trug einen alten, viel zu großen Kapuzenpullover, in dessen Taschen sie ihre Hände trotz der Hitze tief vergraben hatte. Ihre Schuhe hingegen fühlten sich so eng an, dass ihre Zehen schmerzten.

Marie ging ihres Weges und betrachte voller Abschätzung die Menschen, die vertieft in ihren Alltag durch die Straßen schlenderten. So konzentriert auf ihre Umgebung, bemerkte das Mädchen nicht den langen, schwarzen Schlauch, der quer über die Straße lag. Dann lag dieser plötzlich auch schon direkt vor einem ihrer Füße und der Schuh verfing sich darin. Marie stolperte, fiel nach vorne, schnappte überrascht nach Luft und rang Arme rudernd nach Balance. Eine lange, ungewisse Sekunde, stand Marie nur auf einem einzigen, unsicher wackelnden Bein. Dann zog sie den zweiten Fuß aus der Schlaufe, gewann wieder einen sicheren Stand und atmete erleichtert aus.

Im nächsten Moment versetzte sie dem störenden Hindernis auf dem gepflasterten Boden einen wütenden Fußkick. Wozu sollte dieser bescheuerte Schlauch gut sein? Marie blickte sich mit funkelnden Augen nach links und rechts um. Am liebsten würde sie ihren Frust laut hinausschreien. Trotz ihrer Wut unterdrückte Marie das Bedürfnis, wie ein trotziges kleines Kind auf dem nervigen Ding herumzutrampeln und eilte mit verkniffener Miene weiter. Ihre schlechte Laune hatte sich noch mehr gesteigert.

Marie kam an einem kleinen aber teuren Modegeschäft vorbei und betrachtete mit steifer Miene die hübschen Sommerkleider in den Schaufenstern. Ihr Blick huschte zu einem hübschen, blauen Spitzenkleidchen. Die Farbe strahlte so türkis wie das Meer am Strand und erinnerte sie an das herrliche Gefühl von Ferien und Urlaub. Dieses Gefühl löste eine tiefe Sehnsucht in Marie aus. So sehr hatte sie sich gewünscht, diese Sommerferien nach Frankreich ans Mittelmeer zu fahren. Doch auch dafür war ihr Geld zu knapp. Ihre Mutter hatte sie noch mit dem Versprechen auf viele schöne Ausflüge in der Umgebung aufzumuntern versucht. Doch das war einfach nicht dasselbe.

Marie wandte sich zähneknirschend von dem Laden ab und sah sich um. Ihr Leben kam ihr heute wirklich besonders ungerecht vor. Jetzt begann auch noch ihr Magen fordernd zu knurren. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte Marie eine Pizzeria. Vielleicht würde eine warme Mahlzeit ihre Laune etwas heben.

Wenige Sekunden später saß Marie in einem großen, angenehm klimatisierten Raum, eine Speisekarte in der Hand und untersuchte diese nach den Angeboten. Sie entschied sich für eine Pizza Margherita. Diese würde hoffentlich nicht allzu teuer, aber trotzdem lecker sein. Ein Blick auf die rechte Spalte, in der die Preise standen, lehrte Marie das Gegenteil. Neun Euro! Sie wandte sich in verzweifelter Empörung zu einem jungen Kellner um, der gerade an ihrem Tisch erschien.

"Buongiorno! Willkomme in unsere Pizzeria!", grüßte er in schlechtem Deutsch mit starkem, italienischen Akzent. "Was ich kann für Sie tun?"

Marie starrte dem kleinen Mann einige Sekunden lang in die kleinen, dunklen Augen und betrachtete das rote, verschwitzte Gesicht. Ihr fehlten die Worte. Wie konnte der Tag es nur so schlecht mit ihr meinen?

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