Das Lachen des Winters

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Drei Kinder saßen unter einem großen Apfelbaum. Die knorrigen, dicken Zweige über ihnen waren kahl, nur noch wenige Blätter hingen daran. Die Kinder hockten nah beisammen.

"Es ist kalt", jammerte ein Mädchen. Es hatte dickes, goldblondes Haar, warme, braune Augen, lange Wimpern und pausbäckige Wangen, die von der Kälte gerötet waren. 

"Stell dich nicht so an", meinte der einzige Junge unter den dreien, doch auch er zog seine sommersprossige Nase fröstelnd hoch. Blinzelnd hob er den Kopf, auf dem ein verwuschelter, roter Haarschopf saß, und blickte in den wolkenlosen Himmel. 

Das blonde Mädchen warf ihm einen bösen Blick zu und schmiegte sich an seine Schwester. Die war das älteste und ruhigste Kind unter ihnen. Zierlich und blauäugig, mit schulterlangen, hellbraunen Haaren. Als die Jüngere ihr Gesicht in der der Schulter des Mädchens vergrub, nahm sie einen intensiven Duft nach Blumen wahr.

"Jetzt ist nicht die richtige Zeit, um zu streiten", erklärte die Braunhaarige ernst. 

"Du hast Recht." Der Junge senkte verschämt den Kopf. "Tut mir leid."

"Mir auch", schloss sich seine blonde Schwester an. "Aber ... trotzdem. Warum ist es so kalt?"

"Deswegen", erklang eine neue, klare Stimme, die über die ganze Wiese hallte. Die Kinder blickten auf. Mit großen Augen sahen sie der Frau entgegen, die über die Wiese auf sie zugeschritten kam. Es schien, als würde die Luft um sie herum leuchten. Ihr grünes Kleid floss zu einer langen, eleganten Schleppe zu Boden. In den Armen hielt sie ein weißes Bündel. "Kommt zu mir", bat die Frau lächelnd, und winkte die Geschwister zu sich. Die drei rappelten sich auf und gingen auf sie zu. Vorsichtig wickelte die Frau das Bündel in ihren Armen auf. Ein kleines, rundes Gesicht kam zum Vorschein. Winzige, verschrumpelte Hände, die sich immer wieder unruhig öffneten und schlossen. 

"Oh", flüsterte der Junge, der jüngste der Geschwister, ehrfürchtig. Er hatte noch nie ein Baby gesehen. Zaghaft streckte er einen sommersprossigen Finger aus und stupste die Hand des Kindes an. Große, eisblaue Augen blickten blickten ihm neugierig entgegen. Dann schloss sich eine winzige Hand um seinen Finger. Der Rothaarige erstarrte in seiner Haltung und sah fasziniert auf das kleine Geschöpf hinab. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Nun drängten sich auch seine Schwestern nach vorne und begutachteten das Kind ebenfalls neugierig. Die Blonde verzog das Gesicht und fröstelte erneut, im selben Moment musste das Kind niesen. 

"Seine Finger sind ganz kalt", sagte der Junge besorgt. "Geht es ihm nicht gut?"

"Ihm geht es hervorragend", entgegnete die Frau lächelnd. "Frühling." Sie sah die Älteste der Kinder an. "Sommer." Die Blonde blickte auf, als sie ihren Namen hörte. "Herbst." Der rothaarige Junge sah sie abwartend an. "Ich möchte euch euren Bruder vorstellen. Winter."

Die Kinder blickten erneut fasziniert auf das Baby hinab. Frühling beugte sich vor und stupste es vorsichtig am Fuß an. Der Kleine gluckste auf. Etwas weißes, nasses landete auf Sommers Wange. "Was ist das?", fragte sie erschrocken und versuchte es mit dem Handrücken wegzuwischen. Eine zweite Flocke fiel vom Himmel und landete auf Winters Nase. Der Junge lachte auf, und entzog seine Finger der Hand seines Bruders, um nach dem weißen Ding zu greifen. Je lauter das Kind lachte und kicherte, desto mehr Flocken fielen vom Himmel. Die Kinder sahen erstaunt auf ihren Bruder hinab. "Was ist das?", fragte Sommer erneut. 

"Schnee", antwortete die Frau – ihre Mutter – lächelnd. "Schnee." Dann hob sie das Bündel und legte es ihrer ältesten Tochter vorsichtig in den Arm. "Pass gut auf ihn auf."

Das Mädchen nickte und sah ehrfürchtig auf Winter hinab. 

Die Mutter drehte sich um. Leise, beinahe lautlos, schritt sie davon. Ihre grüne Schleppe floss hinter ihr her, schien mit dem Gras zu verschmelzen. Mit jedem Schritt wurde der Umriss der Frau undeutlicher. Schließlich war sie nicht mehr zu sehen.

Die Kinder blickten eine Weile auf ihren weiterhin lachenden, kleinen Bruder hinab. Dann legten sie ihre Köpfe in die Nacken und blickten den weißen, kalten Schneeflocken entgegen.


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Diese Geschichte wurde für den Schreibwettbewerb von @sweet_predator geschrieben. Die Aufgabe war: Schreibe eine Legende darüber, warum es schneit. Und das habe ich jetzt einfach mal versucht. ^^ Lasst gerne einen Kommentar da, wie euch die Geschichte gefallen hat (: 

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