- Prolog -

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Diesmal hatte ich einen guten Traum. Er war sogar wunderschön. Seit einigen Tagen kann ich kaum noch schlafen. Ich wache andauernd auf und bin angespannt. Es muss an dem Vollmond liegen. Ich spürte, wie ich langsam wieder aufwachte und ich wollte es nicht. Ich sehne mich an nichts mehr als den Schlaf. In der Luft lag ein etwas metallischer Geruch und ich bemerkte, dass ich saß und nicht im Bett lag. Ich war einfach während des Unterrichts im Klassenzimmer eingeschlafen. Als mein Gehirn endlich meinen blassen Mathelehrer neben mir wahrnahm, war ich schon längst aufgesprungen und fing an mich sofort zu entschuldigen, denn sowas ist mir noch nie passiert. Sein besorgter Gesichtsausdruck hatte aber nichts mit meinem Schlafen während des Unterrichts zu tun –das merkte ich sofort– es war was anderes. Gott! Ich hatte das Bedürfnis mich übergeben zu müssen–und dieser ekelhafte metallische Geruch im Zimmer unterstützte dieses komische Gefühl in meinem Magen noch mehr. Es erinnerte mich komischerweise an Blut. „Elea was ist hier passiert?", fragte mich Herr Hamlin und riss mich aus meinen Gedanken. Jetzt nahm ich ihn und meine Umgebung wahr. Mein Klassenzimmer sah nicht mehr aus, wie am Morgen. Blut. „Sag mir nicht, du weißt auch nicht, was hier passiert ist!", er schrie mich an, aber ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Was ist hier bloß passiert? Ich war wie versteinert – konnte mich kaum noch von der Stelle bewegen. Überall war Blut. So viel Blut hatte ich noch nie gesehen.
Mir war Übel und ich konnte jeden Moment umkippen. Deswegen war ich umso glücklicher, als ich Unterstützung bekam. „Ich–Ich weiß nicht, was hier passiert ist.", sagte ich schließlich stotternd. Wir schwiegen und sein besorgter und auch ängstlicher Ausdruck wich ihm nicht einmal für eine Sekunde aus dem Gesicht. Zum ersten Mal traute ich mich im Zimmer ganz umzusehen. Ich fühlte mich wie betäubt. Wer konnte so etwas nur machen? Nicht nur auf den Tischen war Blut, sondern überall–an den Wänden und Böden und sogar am Fenster waren Bluttropfen zu erkennen. Plötzlich kam alles hoch und ich musste mich zusammenreißen nicht genau dort auf den Fußboden zu kotzen. Ich betete zu irgendjemanden–zu irgendwas, dass sie alle noch lebten. Eine Stimme ertönte, so als hätte er gehört, was ich mir wünschte: „Sie leben nicht mehr."
Alles drehte sich, als ich ihn sah. Voller Blut. Mit offenen Augen. Ich hatte noch nie so viel Angst in seinen Augen gesehen. Es war Louis. Der Junge, den ich über alles liebte. Er war mein Zwillingsbruder. „Es tut mir leid, Elea", sprach Herr Hamlin und versuchte mich gleichzeitig aus dem Zimmer raus zu zerren. Sein Griff um meinen Arm wurde immer stärker, als ich versuchte die Augen meines Bruders zu schließen. Und er blieb dort. Alleine. Verlassen. So fühlte ich mich auch...
„Wir müssen hier weg"
„Nein!"
„Elea, es geht–"
„Nein! Ich kann ihn nicht hier lassen.", ich merkte, wie meine Stimme drohte zu versagen. „Ich kann ihn nicht alleine sterben lassen! Er ist mein Bruder!" Zum ersten Mal im Leben verspürte ich richtige Schmerzen. Es schmerzte in der Brust–irgendwo tief in der Brust. Er schaute mich weiterhin so an, als spräche ich Chinesisch.
„Ich verstehe dich. Glaub mir, dass tue ich wirklich–", plötzlich wurde das Martinshorn immer lauter. „–wir haben keine Zeit mehr. Ich weiß nicht, was hier passiert ist, aber wir müssen hier weg. Sofort!"
„Sie verstehen mich kaum ein bisschen! Sie können nur leicht reden. Mein Bruder ist gestorben. Alle Menschen, die ich geliebt habe, waren in diesem Zimmer und jetzt raten Sie mal, wer alles tot ist und wer alles überlebt hat. Warum habe ich überlebt? Wie habe ich es geschafft? Wer–", und dann war ich auch schon in der Luft und wurde von meinem Mathe Lehrer rausgetragen. Ich wollte schreien doch meine Stimme machte nicht mehr mit. Ich wusste nicht mehr, was ich machen soll und was zum Teufel passiert war. Aber eins kann ich mit Garantie sagen: An diesem Tag, als ich in diesem von Blut übersprudelten Zimmer aufgewacht bin und jetzt aus der Schule schlich, wird mein Leben nicht mehr so wie früher aussehen. Und ich bin dafür noch nicht bereit.

Todesengel - In Blut ErtrunkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt