Kapitel zwei - Freundschaft und Seoul-idarität

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Kapitel zwei - Freundschaft und Seoul-idarität

„And what's small turned to a friendship, a friendship turned to a bond."

Wiz Khalifa, See you again


Die Sommerhitze drückte schwer auf die Straßen Seouls. Blonde Haarsträhnen klebten an meiner Stirn und verzweifelt versuchte ich, mir mit meinen Händen kühle Luft zuzufächern. Es war der erste Tag des neuen Schuljahres und im Gegensatz zu letztem Jahr freute ich mich auf alles Bevorstehende. Endlich konnte ich wieder im Kreis des Jahrbuch-Clubs sitzen und in dem großen Spiegelsaal mit den anderen neuen Choreografien einstudieren. Sogar auf das Wiedersehen mit einigen Lehrern freute ich mich. Meine größte Euphorie galt allerdings Valentina. Wir beide hatten den Sommer in unseren Heimatländern verbracht und würden uns nun nach zwei Monaten endlich wiedersehen.

Der Urlaub in Deutschland war schön gewesen und wünschte mich auf den Campingplatz an der Ostsee zurück, den meine Großeltern väterlicherseits leiteten. Ich vermisste das Gefühl, meine eigene Sprache zu hören, egal, in welche Richtung ich mich drehte, und die große Auswahl an Brotsorten beim Bäcker, den ich jeden Morgen aufgesucht hatte. Mir fehlten die Abende, die ich mit meinem Opa auf seinem Boot verbrachte und während des Sonnenuntergangs angelte. Lächelnd erinnerte ich mich daran zurück, wie meine Omi und ich über Gott und die Welt schnatterten, am liebsten über ihre Lieblingstelenovela „Sturm der Liebe", während wir den Teig für das Stockbrot zubereiteten. Ja, das Stockbrot über dem Lagerfeuer gehörte zu meinen absoluten Lieblingsmomenten, wenn man sich die Mücken wegdachte. Sonja und ich hatten unzählige Male „Vivo per lei" von Andrea Bocelli und Hélène Segara singen müssen, weil unsere Großeltern unsere Stimmen im Duett so schön fanden, während das Feuer nebenbei knisterte.
„E' una musa che ci invita, elle vivra toujours en moi, attraverso un pianoforte la morte è lontana", summte ich glückselig in Erinnerungen schwelgend. Ich musste lächeln. Ja, der Sommer war von Glühwürmchenfangen bis Tretbootfahren ein perfektes Gesamtpaket gewesen, aber ich spürte, wie ich es jetzt kaum erwarten konnte, wieder in meinen Alltag in Seoul einzusteigen.

Auf und ab wippend stand ich am Haupteingang meiner Schule und wartete, bis der Van von Valentinas Chauffeur endlich in Sichtweite war. Währenddessen beobachtete ich hunderte Schüler, die an mir vorbei auf den Campus strömten. In dem Moment verfluchte ich Choi Seojun-ssi, der Sonja und mich immer extrem pünktlich hier absetzte.
„Hey, äh–", wurde ich plötzlich zögerlich von einem Jungen meines Alters angesprochen. Als ich mich zu ihm drehte, zuckte er zusammen und lief hochrot an. Fragend schaute ich ihm ins Gesicht, doch er brachte keinen Ton zustande. Ich wollte gerade etwas sagen, um die Situation für ihn nicht noch schlimmer zu machen, aber da tauchte plötzlich ein weiterer, älterer Typ hinter ihm auf, der sich locker durch seine dunklen Haare fuhr.
„Hallo, das hier ist mein kleiner Bruder Jihyun. Wir kommen aus Busan und das ist sein erster Tag hier. Er weiß nicht, wohin mit sich. Könntest du ihm helfen?"
Jetzt war es an mir, zu verstummen. Ich starrte den Älteren überrascht an. Seine Stimme war relativ hoch und passte irgendwie nicht ganz zu seinem Erscheinungsbild.

Anscheinend hatte ich zu lange geschwiegen, denn schon fragte er belustigt: „Speakeu Korean?"
Zugegebenermaßen sah ich nicht so aus. Mit meinen blonden Haaren und blauen Augen war es mir seit unserer Ankunft in Seoul im vergangenen Jahr oft passiert, dass Einheimische mich automatisch auf Englisch ansprachen. Dennoch war ich gekränkt, weil ich das Gefühl hatte, dass sich der Typ über mich lustig machte, und erwachte schlagartig aus meiner Starre.
„Auf jeden Fall besser als du Englisch", meinte ich mit einem Grinsen und beobachtete mit Genugtuung, wie beiden Brüdern ihre Gesichtszüge entglitten, „Klar kann ich dir helfen, Jihyun. In welche Klasse gehst du?"
Er flüsterte fast und sah betreten auf den Boden, sodass ich ihn kaum verstand. Ich reimte mir zusammen, dass er wohl in die 10. Klasse gehen musste.
„Genau wie ich. Wir werden bestimmt einige Kurse zusammen haben", bemühte ich mich um einen freundlichen Ton, war aber froh, Valentina im Augenwinkel endlich auf mich zulaufen zu sehen, „Ich kann dich ein bisschen rumführen. Mein Name ist übrigens Melida."
Jihyun nickte dankbar, und ein leichtes Lächeln umspielte nun seine Lippen.
„Na dann, Dongsaeng, folge einfach der Kleinen. Ich muss los, sonst komm' ich noch zu spät an meinem ersten Tag", meinte der Ältere und zwinkerte uns zu. Ich wollte mich gerade über seinen Spitznamen für mich aufregen, aber da wurde ich von Valentina von hinten umarmt.

Überrascht sog ich scharf Luft ein, drehte mich dann aber blitzschnell zu ihr um und schlank mit einem hysterischen Quieken meine Arme fest um sie. Ich sog den Duft von ihrem blumigen Parfum ein und vergrub mein Gesicht in ihren dunklen, buschigen Haaren. Mir wurde bewusst, wie sehr ich sie tatsächlich vermisst hatte.
„Meine Mel", hörte ich sie sagen und konnte das breite Grinsen förmlich hören.
„Meine Tini", erwiderte ich selig und verpasste ihr ein Küsschen auf ihre gut gebräunten Wangen. Ihrem erholten Erscheinungsbild zufolge war auch ihr Urlaub in der Heimat gut gewesen. Wir hatten definitiv viel Gesprächsbedarf.
Als wir uns voneinander lösten, wandte sich meine beste Freundin neugierig den beiden Jungs zu. Mir entging der kurze Blickwechsel zwischen ihr und dem Jüngeren nicht.
„Darf ich vorstellen, Jihyun, ein neuer Klassenkamerad, und sein Bruder...", ich stockte, als mein Blick auf den älteren Typen fiel.
„Jimin", vervollständigte er meinen Satz, „Park Jimin."
„Freut mich, ich bin Valentina. Na dann, lasst uns alle reingehen", meinte sie gut gelaunt und drehte sich schon Richtung Eingang, hielt aber inne, als Jimin ihr Vorhaben mit einem lauten Lachen kommentierte.
„Sorry Ladies, aber das hier ist nicht meine Schule. Ich gehe auf die Korea Arts High School und bin nur Jihyuns Mitfahrgelegenheit. Also, man sieht sich, Valentina und Mel.", grinste er breit und schwang sich lässig auf sein Moped.
„Für dich immer noch Melida!", erwiderte ich trotzig, während ich ihn dabei beobachtete, wie er seinen Helm aufsetzte. Jimin zuckte nur mit den Schultern, zwinkerte mir durch das Visier zu und sauste an uns vorbei. Ich starrte ihm fassungslos hinterher.
Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich in diesem Augenblick dachte. Wahrscheinlich war er für mich in diesem Moment nur eine weitere von vielen unbedeutenden Begegnungen, die ich in meinem Leben durch zahlreiche Schulwechsel schon erlebt hatte. Vielleicht aber hatte in diesem Moment auch ein Teil von mir geahnt, dass es anders war. Park Jimin also. Mein Schmunzeln, als ich diesen Namen zum ersten Mal in mir verinnerlichte, werde ich auf jeden Fall nie vergessen.

An einer internationalen Schule wie der KIS war es nur normal, dass jedes Jahr Schüler die Klasse verließen und Neulinge dazukamen, schließlich waren die meisten Diplomatenkinder und zogen – genau wie ich – im Abstand von drei oder vier Jahren um. So war auch Valentinas und meine gemeinsame Zeit nur noch auf zwei weitere Semester beschränkt. Danach würde sie nach Tunesien gehen.
Eigentlich hatten wir uns am Ende der neunten Klasse versprochen, im folgenden Schuljahr keine Neuen in unser Verhältnis grätschen zu lassen. Aber dann war da Jihyun. Wir waren uns sicher, dass er sich beim Betreten des Klassenzimmers von uns verabschieden und zu den Jungs gesellen würde. Doch er schien ganz andere Pläne zu haben, was aber Tini nicht wirklich zu stören schien, weshalb ich ebenfalls nichts sagte. Tatsächlich begann er, sich wie eine Klette an uns zu hängen und lief uns den ganzen Tag hinterher. Nicht mal in der Mittagspause versuchte er, sich in der Cafeteria zu unseren männlichen Klassenkameraden zu setzen. Stattdessen kaute er schweigend auf seinem Hühnchen mit Austernsoße herum, während er Tinis und meinen Gesprächen lauschte.
„Jimin meinte, dass ihr aus Busan kommt", rang ich mich dann nach einer Weile doch schließlich ab, ihn in unsere Unterhaltung miteinzubeziehen, „Warum seid ihr umgezogen?"
Er zuckte leicht zusammen, als ich ihn ansprach, schluckte sein Essen herunter und antwortete mir leise: „Mein Bruder hat bei so einem Casting mitgemacht und wurde hier auf der Korea Arts High School angenommen. Also ist meine ganze Familie hierher gezogen. Jimin-hyung ist ein Trainee. Vielleicht wird er bald berühmt."
Tini und ich mussten lachen, aber als Jihyun uns verständnislos ansah, räusperten wir uns. Er meinte den letzten Satz also ernst. Ich hatte es tatsächlich für Sarkasmus gehalten.
„Aber warum gehst du dann auf eine internationale Schule?", fragte Valentina verwirrt, „es gibt doch hundert andere koreanische Schulen in Seoul."
„Ich will nicht in Südkorea bleiben. Mein Ziel sind die Staaten. Da will ich ein Unternehmen gründen. Ich lerne seit Jahren Englisch für diesen Traum. Die KIS ist die perfekte Schule für mich." Seine Augen begannen zu leuchten und endlich war die Lautstärke seiner Stimme etwas verständlicher. „Und ihr zwei, was macht ihr hier?"
Tini und ich benötigten den Rest der Pause, um ihm unser Schicksal, das mit dem Job unserer Eltern kam, zu erklären.
„...also war ich seit meiner Geburt in der Elfenbeinküste, im Kindergarten in Argentinien, meine Einschulung war in Nordkorea, dann sind wir als ich zehn war nach Neuseeland gezogen und vor einem Jahr hierher", schloss ich meine Erzählung ab. Ich freute mich jedes Mal, wenn jemand sich für meine Geschichte interessierte. Denn so ungewöhnlich sie auch sein mag, in den Diplomatenkreisen, in denen ich mich meist aufhielt, war sie etwas ganz Gewöhnliches.
„Mel war an so coolen Orten! Meine Familie hat mich immer nur in Länder wie Aserbaidschan oder Mali gezerrt", sagte Tini und täuschte vor, zu weinen, was ziemlich unterhaltsam aussah.
„Jetzt bist du ja hier", tröstete ich sie, mich schüttelnd vor Lachen. Auch Jihyun hatte ein Grinsen im Gesicht. Endlich. Es war wirklich zunehmend anstrengend geworden, ihn so verkrampft neben uns sitzen zu sehen, als würde er uns für hungrige Kannibalen halten. Jetzt schien er glücklicherweise langsam zu verstehen, dass wir eher der zurückgebliebenen Hyäne aus „König der Löwen" ähnelten.

Die Dinge nahmen mit jedem Schultag ihren Lauf und spätestens, als Jihyun, ohne zu wissen, dass Tini ebenfalls ein Mitglied war, dem Debattierclub beitrat, stand fest, dass kein Weg mehr um ihn herumführte. Also wurden wir drei nach zwei Wochen in der Klasse als das unzertrennliche Trio bekannt.
Jihyun taute auf und seine Schüchternheit gegenüber uns Mädels verschwand fast vollständig. Wir begannen, uns nach der Schule in Cafés zu treffen und uns gegenseitig zu besuchen. Die Freundschaft zu den beiden war befreiend und wahrscheinlich die ehrlichste und vielversprechendste, die ich jemals geführt hatte.
Als ich vor einem Jahr im Sommer 2011 in Seoul ankam, hatte ich mich gefreut, dass so viele Dinge hier endlich ein Ende nehmen würden. Ich hatte mich auf diese ganzen „Letzten Male" gefreut nur an meine Zukunft in Deutschland gedacht. Mein Tunnelblick hatte mir die Sicht auf all die schönen Dinge, die links und rechts von mir lagen, versperrt.
Letztendlich waren die ganzen „Ersten Male" in Seoul viel wertvoller. Mit Tini und Jihyun verbrachte ich 2012 den besten Sommer meines Lebens. Ich ging ich das erste Mal auf ein Konzert - F.T. Island am zweiten September in der Olympic Hall. Das erste Mal Alkohol, das erste Mal Tabak, das erste Mal Karaoke. Wir teilten alles miteinander. Wir waren die Art von Fünfzehnjährigen, die sich gegenseitig Bauchnabelpiercings stachen und heimlich Graffiti an die Hausfassaden sprühten (nur zweimal, zugegebenermaßen, weil die Flucht vor der Polizei beim zweiten Mal beinahe schiefging). Jihyun versuchte sogar, uns das Longboardfahren beizubringen. Während Tini ein absolutes Naturtalent war, gab ich nach sechs Stürzen auf und ließ die beiden während ihrer Spritztouren durch die Parks Seouls allein.

Irgendwann offenbarte uns Jihyun, wie oft er allein zuhause war.
„Jimin-hyung wohnt seit Mai in einem Dorm mit anderen Trainees und kommt nur gelegentlich mal nach Hause, um sein Zimmer zu besetzen. Und meine Eltern sind, seitdem sie hier in Seoul ein Café eröffnet haben, nirgendwo anders mehr als auf der Arbeit anzutreffen."

Tini und ich fanden die Vorstellung, wie er abends immer allein mit einer Schüssel Instant-Ramen rumhing, viel zu grausam, also begannen wir, ihn ständig abwechselnd zum Abendessen einzuladen. Meine Familie mochte Jihyun sehr gerne, auch wenn am Anfang aus Schüchternheit kaum ein Wort seinen Mund verließ. Mein Papa sagte mal in einem Moment unter vier Augen zu mir, dass er ihn als einen sehr anständigen, jungen Mann einschätzte. Von Sonja wurde ich sogar mal gefragt, ob da etwas zwischen ihm und mir lief, woraufhin ich einfach nur lachen konnte. Nach dem Essen spielten Jihyun und ich oft noch stundenlang Tischkicker oder guckten Animes zusammen, wobei er versuchte, seine Japanisch-Kenntnisse mit mir zu teilen. Im Gegenzug verlangte er, dass ich ihm etwas Deutsch beibrachte, was uns viele Lachanfälle bescherte.
Auch Valentinas Familie schien ihn herzlich aufzunehmen, wie sie mir mal erzählte.
„Sie haben ihn gerne, weil er meine beiden kleinen Zwillingsbrüder stundenlang mit seinen Dinosauriergeschichten ablenken kann. Er selbst hat sie angeblich von Jimin", hatte sie mir mal am Telefon erzählt. „Inzwischen erlauben meine Eltern sogar, dass er ab und zu bei uns übernachtet. Er bringt Carlos und Eloan meistens ins Bett, weil er wirklich der einzige ist, von dem sie sich zähmen lassen. Dann spielen wir meistens noch Rommé oder Schach. Er ist ein richtiges Ass. Wusstest du, dass er kalt duscht? Und er kann seine Zunge dreifach rollen, der Wahnsinn! "
Ich fand es süß, wie Tini während unserer Telefonate regelrecht von unserem besten Freund schwärmte, vor ihm aber kein vernünftiges Kompliment hervorbrachte. Ich konnte ihre Augen quasi durch mein Handy leuchten sehen.

Wir hatten geglaubt, dass bis zu Valentinas Umzug im darauffolgenden Sommer nichts und niemand uns trennen könnte. Wir standen uns einfach zu nah. Aber da haben wir nicht an ein weiteres „Erstes Mal" gedacht: Liebeskummer.

Der Anfang des Endes begann, als die Hitze über Seoul abebbte und die Blätter sich schillernd bunt färbten...

ѕprιɴɢ dαy - αɴ deιɴer ѕeιтeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt