~* PROLOG *~

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Tick, Tack. Tick, Tack.
Das ständige Geräusch dieses lächerlichen Zeit-Messers ließ seine Ohren inzwischen bluten, so sehr war er schon davon genervt. Warum nur, behielt er dieses unnütze Möbelstück nur in seinem Gemach, wenn dessen Besitz für ihn doch keinerlei Nutzen trug?
Vielleicht ja der Ästhetik wegen. Das würde Sinn ergeben, da eine antike Pendeluhr zur Grundeinrichtung eines jeden Grafen im 19. Jahrhundert gehören sollte.
Möglicherweise ließ er sie ja auch aus reiner Selbstgefälligkeit zwischen seinem Porzellanschrank und der verstaubten Rokoko-Kommode stehen. Weil es ihn insgeheim erheiterte, seinem Fußvolk dabei zuzusehen, wie sie sich jeden neuen Morgen aus ihren Betten erhebten. Danach würden sie ohne Pause, Stunde für Stunde, jeden Atemzug ihrer kostbaren Lebenszeit dafür verschwenden, ihm von Kopf bis Fuß zu dienen, anzuziehen, Essen zuzubereiten, dreimal am Tag. Dann würden all diese Diener, müde und ihrer jämmerlich kurzen Ausdauer schwerfällig, wieder in selbige Betten zurückkehren, um darin die Nacht zu verbringen, bis sich dieser Vorgang beim nächsten Sonnenaufgang wiederholen würde. Müsste er nicht sein auferlegtes, kleines Geheimnis für sich behalten, dann würde er seinen morbiden Humor nicht hinter seinen steinernen Gesichtszügen verstecken müssen und er könnte herzlichst darüber lachen. Untunterbrochen. Wie seine Existenz in diesem biederen Körper.
Doch der eigentliche Grund, warum er es dem Störenfried gestattete, mit diesem unaufhörlichen Ticken und Tacken an seinen Nervenenden zu nagen wie eine Straßenratte an einem Käselaib, war jener, dass er so das kleine, aufmüpfige Mädchen mit dem puppengleichen Gesicht und den aufwendigen Schulterlocken einigermaßen beschäftigen konnte. Denn wenn sich das Kind im Salon zum Spielen auf dem Boden niederließ, dann hockte sie meistens im Schneidersitz vor der hoch vor ihr aufragenden Uhr und neigte den Kopf von einer Seite zur anderen, um dem schwingenden Pendels mit hypnotisiertem Blick zu verfolgen.
Manchmal, da hörte er das Balg sogar leise eine Melodie zum Takt singen, das süße, glockenhelle Stimmchen füllte dann die erdrückende Stille des viktorianischen Anwesens:

"Tick, Tack, Tick, Tack,
So vergeht die
Zeit für Menschen
Doch nicht für mich

Ich bleib hier und
Sing mein Liedchen
Lang und einsam
Ist mein Leben

Tick, Tack, Tick, Tack,
Hör sie schreien
Wenn sie sterben
Im Glanz der Nacht

Ich bleib hier und
Sing mein Liedchen
Lang und einsam
Ist mein Leben

La, la, la, la..."

Ein unwillkürliches Lächeln fand seinen Weg auf sein blasses Gesicht. Das alberne Lied besaß mittlerweile unendlich viele Strophen, aber keinen einzigen Reim. Dabei sorgte er doch bestens für die Bildung dieser Göre, eigentlich müsste sie doch längst begreifen, wie ein Reim funktioniert, oder etwa nicht?
Einige Minuten verstrichen, in denen er gezwungen war, dem engelsgleichen, sinnfreien Gesang des Mädchens und dem lästigen Geräusch des Zeit-Messers zu lauschen. Da nahm er einen tiefen Atemzug und klopfte sich mit einer auffordernden Geste auf den Schoß.
"Rosetta, komm her."
Drei kurze Worte reichten aus, um das blonde Kind aus seiner Trance zu reißen und einen verblüfften Blick aus dessen Knopfaugen zu erhalten. Dann erhob sie sich auf ihre Beine und trat in wenigen Schritten an seinen Armlehnenstuhl, wie es von ihr verlangt wurde - eine Seltenheit, wenn man sich an ihren üblichen Eigensinn erinnerte. Sie fiel vor ihm auf die Knie und lehnte sich auf seinen Schoß, was er als Erlaubnis betrachtete, ihr mit seiner kühlen Hand über das zarte Köpfchen zu streicheln. In langsamen und behutsamen Zügen glitten seine knorrigen Finger durch ihr gepflegtes Haar, wodurch ihm diese Liebkosung fast schon fremd erschien, wenn man in Betracht bezog, wozu er seine Hände sonst einsetzte...
"Warum spielst du nicht mit deiner neuen Puppe, Kindchen? Gefällt sie dir etwa nicht?"
Seine Frage wurde mit einem trotzigen Schmollmund beantwortet.
"Bruderherz hat Liselottas Kleid zerrissen", erzählte Rosetta ihm mit einem hasserfüllten Funkeln in den tiefbraunen Augen, "Du musst ihn bestrafen, Vater. Du musst ihn aus dem Haus sperren und ihn dazu zwingen, die Erde im Garten zu fressen."
Die sadistische Bitte seiner Zweitgeborenen veranlasste ihn zu einem stummen Augenrollen. Diese verdammte Brut konnte sich nicht mal für einen einzigen Tageszyklus vertragen. In Gedanken verfluchte er die Mutter der Zwillingsgeschwister für ihre anziehende Aura, die ihn hatte schwach werden lassen. Glücklicherweise musste er sich nicht mehr mit deren Anliegen beschäftigen, denn ansonsten hätte er die Zurückhaltung seiner Wenigkeit längst vergessen.
"Aber Liebes", entgegnete er mit butterweichem Unterton in der Bass-Stinme, "Wenn du derartig darauf bestehst, deine Wut zu regulieren, dann weißt du doch genauestens, was du tun solltest."
Die langen Wimpern des Mädchens klimperten fragend zu ihrem Vater hinauf. "Etwa das, was du mir und Bruderherz vergangene Woche gezeigt hast?"
"Ganz recht." Einen seiner Mundwinkel hochziehend, klopfte er seiner Tochter auf die schmale Schulter, um ihren Eifer anzuspornen. "Führe es mir genauso vor, wie du es gelernt hast."
Gehorsam nickte die kleine Rosetta und stand erneut auf, um sich zu einer Topfpflanze auf dem Fensterbrett umzudrehen, deren frische, grünen Blätter nur so vor Lebenskraft sprießten. Konzentriert streckte sie die zarte Hand nach dem Gewächs aus und formte ihre gespreizten Finger langsam zu einer Faust.
Und schon wurde sein stetig schlagendes Herz erheitert vom Anblick eines Lebewesens, dem sämtliche Energie entzogen wurde: Das arme, arme Topfpflänzchen verdorrte innerhalb von Sekundenbruchteilen zu einer abgestorbenen, vertrockneten Hülle seiner Selbst.
"Ausgezeichnet, Kindchen." Anerkennend nickte er dem Mädchen zu, welches nun in Zufriedenheit über ihren Fortschritt übers ganze Gesicht strahlte. "Du wirst von Tag zu Tag besser darin."
Natürlich musste sein Moment des flüchtigen Stolzes von einer Bediensteten jäh unterbrochen werden, die unangekündigt den abgedunkelten Salon betrat und das verblichene Gewächs sogleich entdeckte. Anstand war dieser Sippschaft an Gefolge wohl ein reines Fremdwort, erkannte er mit einem unterdrückten Stöhnen.
"Verzeiht, Herr", murmelte die Magd eine kleinlaute Entschuldigung und schaute ihren Vorgesetzten ehrfürchtig an, und ein winziges Schmunzeln zierte seine Lippen, als er einen Funken Angst in ihren weiten Augen erhaschte. "Ich werde mich sofort darum kümmern."
Ohne weitere Umschweife und mit zitternden Händen griff das Dienstmädchen nach der Topfpflanze und wollte sie in hastigen Schritten aus den Raum transportieren, doch dazu würde es nicht kommen.
"Dabei habe ich sie doch regelmäßig gegossen..."
Hätte die junge Bedienstete geahnt, dass dies die letzten Worte sein würden, die ihre Lippen verließen, wäre ihr bestimmt bewusst geworden, wie erbärmlich sie aus der Welt schreiten musste. Nun lag ihr Körper reglos auf dem nackten Holzboden, die glasigen Augen starrten mit leerem Blick auf die Decke.
Wie schade, dachte er sich mit einem Stich des Bedauerns in der Brust. Sie war recht ansehnlich gewesen für so ein blutjunges Ding ihrer Zunft.
Rosetta, welche noch immer den Arm vor sich ausgestreckt hielt, sah ihr Elternteil über die Schulter neugierig an.
"Habe ich es so richtig gemacht, Vater?"
Erregt leckte er sich über die Lippen, so sehr genoss er die bloße Demonstration dieser unbeschreiblichen Macht des Lebensentzuges, welche seine Tochter zum zweiten Mal in ihrem mickrigen Dasein angewendet hatte.
"Das war eine glanzvolle Leistung, meine Kleine. Überlasse den Rest bitte mir."
Eine simple Geste seiner knorrigen Hand reichte aus, um den toten Körper der Bediensteten in ein unheilvolles, violettes Licht zu färben. Schon löste sich ihre physische Form in Luft auf, der Überbleibsel verwandelte sich in eine dämmrige, unscharfe Hülle, die blitzartig in eine schwarze, furchterregende Gestalt mutierte. Ihre blutbefleckten Zähne fletschend, stieß sie einen Wutschrei aus, der Mark und Bein erschütterte. In denselben Augen, in welchen zuvor Respekt und Bangen aufblitzten, sprühten nun Hass und Aggression, ihr Körper nurmehr ein bebendes Gebilde aus Schatten und Dunkelheit.
Manch ein leichtfertiger Zeuge würde dieses außergewöhnliche Schauspiel als Zauberei oder Magie bezeichnen. Doch er bevorzugte diesbezüglich einen anderen wesentlich passenderen Ausdruck.
Hexerei.
Der Albtraum eines jeden Menschen, der den Tod durch die Hand seiner Familie fürchtete.

"Tick, Tack, Tick, Tack..."

Schon gewann die Pendeluhr erneut Rosettas ungeteilte Aufmerksamkeit, und er selbst machte Anstalten, das schattenhafte Wesen seinen unstillbaren Appetit nach Energie zu auszuliefern und es zur Gänze zu verzehren, bis nichts mehr von ihm übrig blieb. Auch diese vergeudete Lebenskraft würde er in sich aufnehmen, sodass sich alles und jeder einer entscheidenden Sache bewusst wurde.
Nämlich, dass nicht einmal die Zeit selbst sein Knie beugen würde.

"Tick, Tack, Tick, Tack,
So vergeht die
Zeit für Menschen
Doch nicht für mich

Ich bleib hier und
Sing mein Liedchen
Lang und einsam
Ist mein Leben..."

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FEMMES DES GEMMES - An Amber's ShineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt