Schneeengel

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Sie sah aus dem Fenster. Es schneite. Der Zeitpunkt war gekommen. Sie zog ihr Kleid an. Es war blau, genauso wie ihre Haare. Blau war ihre Lieblingsfarbe, ein eiskaltes, aber dennoch ausdrucksstarkes blau. Sie zog keine Schuhe an, verließ barfuß das Haus. Sie ging durch die Straßen. Die Leute zeigten auf sie, riefen ihr etwas zu. Doch sie verstand es nicht. Sie schaute nur nach vorne, nicht zurück. Ignorierte alles, achtete nicht einmal mehr auf den Weg. Sie durchquerte einen Wald. Wie lange sie schon lief, wusste sie nicht. Wohin sie lief, wusste sie nicht. Auf einer kleinen Lichtung blieb sie stehen. Sie hielt inne. Lauschte den Geräuschen des Waldes, der Natur. Sie hörte Vögel zwitschern, es war ein fröhliches Zwitschern. Sie setzte sich in die Mitte der Lichtung, direkt in den kalten Schnee. Aus der Tasche ihres Kleides zog sie eine Klinge. Eine neue, saubere Klinge. Extra für diesen einen Schnitt. Diesen besonderen Schnitt. Diesen entscheidenden Schnitt. Diesen letzten, tiefen Schnitt. Sie setzte sie an. Sofort fühlte sie dieses befreiende Gefühl. Dieses Gefühl, dass jedes Mal wiederkehrt, wenn die Klinge ihre Haut berührt. Und nur dann ist die Welt einigermaßen erträglich. Für einen kurzen Moment. Sie drückte die Klinge immer tiefer in ihre Haut. Blut lief ihren Arm hinunter. Warmes Blut auf kalter Haut. Rote Punkte im weißen Schnee. Sie drückte die Klinge auch in den anderen Arm. Noch ein gerader Schnitt. Ein tiefer Schnitt. Der Schnee unter ihr verfärbte sich langsam vollständig rot. Auch diese Farbe mochte sie. Es war nicht die Farbe der Liebe, sondern die Farbe des Blutes, eng verknüpft mit dem Leben. Es würde das letzte Mal sein, dass sie diese Farbe sieht. Dass sie dieses befreiende Gefühl spürt. Sie legte sich in den roten Schnee. Nach einer Weile fing sie an, Schneeengel zu machen. So wie sie es früher gemacht hatte. Als die Welt noch in Ordnung war. Als ihre Eltern sich noch liebten. Als ihre Mutter noch lebte, als ihr Vater noch nicht trank. Doch diese Zeiten waren schon lange vorbei. Was ihr geblieben war, waren Narben. Narben an den Armen, an den Beinen, auf dem Bauch. Und Erinnerungen. Erinnerungen an schlimme Dinge. Schreckliche Bilder. Aber diese Gedanken, dieses ganze Leben musste sie jetzt nicht mehr aushalten. Sie machte weiter Schneeengel. Es war ein Engel mit roten Flügeln. Mit blutenden Flügeln. Langsam wurde es dunkel. Und kälter. Sie hörte auf sich zu bewegen. Sie wusste, dass es soweit war. Sie spürte es. Sie schloss die Augen. Atmete ein. Atmete aus. Atmete ein. Atmete aus. Dann wurde es still. Sie hatte aufgehört zu atmen. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor. Er beschien die ganze Szenerie. Ein Mädchen. Mit blauen, langen Haaren. Einem blauen Kleid. Mit blutroten Flügeln. Blass. Und wunderschön.

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