Ein ganz normaler Nachmittag

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Ich kuschle mich etwas tiefer in den weichen Sessel und blättere um. Dieses Buch ist wirklich unfassbar interessant. Ich habe es von Armin bekommen.

Na ja, bekommen. Genau genommen habe ich ihn vielleicht ein bisschen erpresst. Der etwas schüchterne Blonde las es unvorsichtigerweise in der Öffentlichkeit. Das Buch reicht von Titanen bishin zu riesigen Seen in der Welt, außerhalb der Mauern. Mit einem kleinen strengen Blick konnte ich ihn leicht überreden, mir den Wälzer zu überlassen. Allerdings habe ich ihm versichert, es niemandem zu verraten.

Die schwere Holztür meines Arbeitszimmers öffnet sich knarzend und ich lasse das Buch zu Boden fallen, während ich eine Kerze umstoße. Hektisch lachend versuche ich, die kleine Flamme auf meinem Schreibtisch zu löschen. Levi schaut misstrauisch.

„Abend Hanji, wie weit bist du mit den Forschungen zu Felsi?" Felsi, das ist mein neuer, eigener Titan. Erwin hatte mir im Titanenwald geholfen ihn zu fangen. Er ist ein wunderschön ausgeprägtes Exemplar, 3 Meter Klasse, auffällig große, gelbe Augen und ein breites Grinsen. Ich musste ihn einfach haben!

„Großartig!" Ich kichere schrill. „Ich mache nur Fortschritte. Es läuft sensationell. Er ist ein perfektes Versuchskaninchen für einige, kleinere Experimente!" Wenn Levi wüsste, dass ich heute weder... „Hast du dich etwa schon wieder nicht gewaschen?"

Zornig sieht mich der Kurze an. Ich lächle nervös und spüre, wie mir der Schweiß ausbricht. „Ehm... Doch! Natürlich!?" Aber er scheint anderes im Kopf zu haben, als mich zum Baden zu schicken. Glück für mich! Levi ist immer unfassbar grob und nicht selten bekomme ich einen Wascheimer auf den Kopf oder verbrühe mich am heißen Badewasser! Möglichst unauffällig seufze ich vor Erleichterung.

„Und? Was willst du von mir, Levi?!" Beinahe verrückt klimpere ich ihn an und fixiere ihn mit meinen Augen. Er ignoriert es. „Komm runter, Vierauge!" Ich seufze erneut und lasse mich zurück in den Sessel fallen, krame das Buch unter dem Tisch hervor und knicke die Seiten wieder zurecht. „Sieh mal, was ich einem der Soldaten abgeknöpft habe." Triumphierend halte ich ihm das Buch vors Gesicht. „Ein Buch!"

„Fantastisch, Hanji. Wir haben eine ganze Bibliothek voller Bücher." Frustriert knalle ich es auf den Tisch. Levi hat es sich mittlerweile auf einem der benachbarten Sessel gemütlich gemacht und beobachtet mich. Ich gehe um den Tisch herum und merke, wie ich langsam in Fahrt komme.

„Einer der Soldaten hatte dieses Buch, Levi. Es ist ein Buch über die Außenwelt, außerhalb Mauer Maria. Ein Solat! Weißt du, was das bedeutet, Levi? Unsere Einheiten hätten höllischen Ärger bekommen, wenn sie davon gewusst hätten! Was meinst du was passiert wäre, wenn-" „Ich weiß das doch!" Levi unterbricht mich und mir klappt der Kiefer hinunter. „Du wusstest das?" „Ja! Arlert hat das Buch von seinem Großvater. Jäger hat mich beim putzen damit zugelabert wie schön dort alles sein soll. Ich kenne das Buch jetzt in und auswendig."

„Oh... Na wenn das so ist. Lass es nur Erwin nicht erfahren, der bekommt sonst noch einen Nervenzusammenbruch." Ich zwinkere meinem Unterkommandanten zu.

Diese Sache mit Erwin ist ein kleiner Insider zwischen uns. Der Kommandant hat ziemlich viel zu tun und wenn man mal seine ruhige Fassade gebrochen hat, erleidet er einen mehr oder weniger echten Nervenzusammenbruch in drei Phasen.

Phase eins: Er wird sehr, sehr wütend, brüllt das ganze Haus zusammen und rennt durch die Gegend wie ein aufgescheuchtes Wildpferd, bis zu einer Stunde.

Phase zwei: Der Kommandant bricht in Tränen der Verzweiflung aus. In diesem Moment fühle ich immer eine bizarre Mischung aus Entzücken, Schadenfreude und Mitleid. Diese Phase dauert zwischen 15 und 30 Minuten.

Phase drei: Jetzt merkt er entweder, dass Levi und ich ihn mit Absicht gereizt haben und ist den Rest des Tages grimmig, nur um irgendwann in Gelächter auszubrechen, oder wir hatten tatsächlich nicht unsere Finger im Spiel und dürfen uns einen deprimierten Kommandanten anhören, der uns seine Lebensgeschichte erzählt. Natürlich mit viel Kräuterschnaps und Absinth...

Um Phase drei möglichst zu vermeiden, versuchen wir meistens, ihn nach oder noch vor Phase zwei abzulenken. Oft, indem wir ihm noch mehr Arbeit aufgeben oder Levi mich zwingt, ihn zu einem meiner Experimente mitzunehmen. Dabei leiden wir oft beide. Erwin langweilt sich zu Tode und ich bin über seine Unwissenheit entsetzt. Nicht einmal Moblit kann dann etwas mit dem Mittelscheitelträger anfangen.

Levi zuckt nur mit den Schultern, nimmt sich ein Buch aus einem meiner vollgestopften Bücherregale hinter ihm und macht es sich bequem. Auch ich widme mich wieder dem interessanten Wälzer. So verbringen wir eine Zeit lesend, schweigend und in gemeinsamer Einsamkeit.

Ein heftiger Windstoß öffnet das hohe Fenster in meinem Rücken. Ich drehe mich um und beobachte fasziniert, wie die schweren, dunkelroten Vorhänge durch den freien Raum wehen. In letzer Sekunde bemerke ich aus dem Augenwinkel meine Aufzeichnungen. Sie werden von der heftigen Briese angehoben und verteilen sich im Zimmer.

Als ich, noch immer schweigend, zu Levi sehe, sieht er über mich hinweg aus dem Fenster, also tue ich es ihm gleich. Was gibt es denn dort draußen zu sehen? Gespannt beobachte ich die grauen Regenwolken, die sich wie Rinder schwer über den Himmel ziehen. Der angrenzende Wald strahlt eine unheimliche Atmosphäre aus und in der Ferne höre ich ein dunpfes Grollen. Ein Gewitter zieht aus dem Süden heran.

Levi und ich stehen fast gleichzeitig auf, er sammelt die Blätter auf, ich kümmere mich um das offene, wiederspenstige Fenster. Als ich es endlich verschlossen habe, schiebe ich den schweren Sessel davor um es verschlossen zu halten. Der Schwarzhaarige und ich verlassen mein Arbeitszimmer um Erwin und den anderen Bescheid zu sagen. Sie sollen sich für das Unwetter vorbeireiten. Ich mache mir Sorgen um Felsi. Ich weiß noch nicht, wie Titanen bei Unwetter handeln. Ob es ihn arg schwächt? Vielleicht geschieht auch das Gegenteil! Ich sollte die Chance nutzen und ihn überwachen lassen, am besten mache ich das persönlich. Moblit und den anderen Wissenschaftlern traue ich die Arbeit mit den sensiblen Titanen noch nicht wirklich zu.

„Gibt du Erwin und den anderen Soldaten bescheid! Ich muss mich um einige Forschungen kümmern!" Schreie ich Levi über den Hof und stürze auf das Wissenschaftsgebäude zu, um meine Leute einzusammeln und einige Unterlagen zu besorgen. Auf die Bestätigung der obersten Kommandanten kann ich jetzt nicht warten.

Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie immer wieder junge Soldaten und Soldatinnen über den Hof rennen, die Ställe sichern oder aus dem Wald eilen. Der Wind ist mittlerweile so stark, dass ich beinahe umfalle, als ich den Türknauf der Untersuchungshalle drehen möchte. Darin finde ich Moblit und die Anderen, wie sie gemütlich an einem Feuer sitzend Tee trinken und sich unterhalten. Eine Böe schlägt die Tür hinter mir zu und entfacht meine Wut.

„Was sitzt ihr hier rum?! Wir haben zu tun! Bekommt eure Hintern hoch, wir müssen Felsi untersuchen. Und selbst wenn ich keine Forschungen betreiben würde, warum helft ihr nicht den neuen Rekruten bei der Sturmvorbereitung!? Los jetzt!" Er schrocken stammelt Moblit eine Entschuldigung, doch ich höre ihm nicht zu und packe ihn stattdessen am Kragen. „Hör auf dich zu entschuldigen! Sitz das nächste mal nicht einfach nutzlos herum!"

Diese Untätigkeit macht mich wahnsinnig. Was ist, wenn durch diese unfähigen Idioten jemand verletzt wird, oder noch schlimmer, Felsi entwischt oder stirbt? Egal. Wir haben jetzt keine Zeit. Wir rennen durch den Sturm. Mittlerweile schlagen direkt über uns Blitze durch die Luft, die Stimmung ist geladen und ein Hagelregen stürzt auf uns herab.


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Schönen Abend ihr alle!

Ich hatte gerade einfach Lust, mal wieder einen kleinen Oneshot zu schreiben. Ich hoffe, es gefällt euch und er erzeugt die gewünschte Stimmung. Mir hat es jedenfalls viel Spaß gemacht und ich habe das Gefühl, dass er ziemlich gut geworden ist. :)

Rechtschreibfehler, Verbesserungen oder Wünsche bitte wie immer an mich!

Ganz liebe Grüße,

Wurmatelier

Ein Tag in Hanjis Leben (Oneshot)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt