7 - Die Madonna

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Am folgenden Tag, an dem die Regenwolken grau und schwer am Himmel hingen, als hätte sie eine begabte Handwerkerhand dort festgeschmiedet, besuchte ich zum ersten Mal seit Jahren eine Kirche.
Es war keine der großen Kirchen der Stadt, wie Notre-Dame de Genève oder die Cathédrale Saint-Pierre, sondern eine Kapelle etwas außerhalb, von der die meisten Touristen noch nie gehört hatten.

Es regnete in dicken Tropfen, die leise flüsternd auf dem schwarzen Plastik meines Schirms mit dem dunklen Holzgriff zerbarsten, als ich über den ausgetretenen Kiesweg zwischen den nadelnden Lärchen hindurch ging. Kies und Grabsteine waren dunkel von der Feuchtigkeit, die trotz der vielen Kleidungsschichten langsam aber sicher unter meine Kleidung kroch.

Die Kapelle war winzig und kalt.
Eine fahlgesichtige Madonna wachte in anmutiger Pose über die vier winzigen Kirchenbänke.
Ich ließ mich auf der hintersten nieder und schloss die Augen, während der Regen auf das Dach der Kapelle prasselte und der halb süße Duft der Narzissen, die jemand zu Füßen der Marienfigur gelegt hatte, meine Sinne benebelte.

Die Stille gab mir den Raum, das erste Mal seit wir in die medizinische Fakultät eingebrochen waren, auszuatmen.
Ich stützte die Arme auf die Knie und starrte einen Moment auf die Narzissen hinab, bevor ich meinen Blick zu der Marienfigur hob.
Der Heiligenschein über ihrem Haupt erinnerte mich entfernt an das Sonnensymbol, das Rita auf ihren linken Schuh gemalt hatte.

Ich dachte viel nach, während ich dort auf dem kalten Holz saß und dem Regen lauschte, doch Rita und die Puppe waren zu Dreh- und Angelpunkt meiner Gedankenwelt geworden, ohne dass ich es bemerkt hatte.
Bald sah ich anstatt der Madonna nur noch die beinahe menschliche Figur, die auf der Werkbank darauf warteten, dass ich die letzten Handgriffe tat.

Immer mehr nahm ein Körper auf meiner Werkbank Form an, der still und kalt dalag, als hätte man ihn bereits auf eine der metallenen Liegen in der medizinischen Fakultät verbannt, noch bevor er seinen ersten Atemzug getan hatte.
Ein Körper, dessen Maße auf Ritas beruhten und für den wir uns illegaler Handlungen schuldig gemacht hatten.

Es fühlte sich richtig an, einen Ort zu besuchen, an dem Tod und Leben ganz natürlich so nahe beisammen waren, wie sonst nirgendwo. Zwischen Bäumen umherzuwandern und in einer Friedhofskapelle zu sitzen heilte die Unruhe, die der kalte Raum, der Geruch des Formaldehyds und die Kälte der Hand in mir ausgelöst hatte ein wenig.

Doch dass meine persönliche Verstörtheit nachließ, änderte nichts an der Tatsache, dass ich mich für dieses Projekt nun schon viel zu weit in moralisch graue Zonen vorgewagt hatte.
Doch weder der tadelnde Blick der Madonna, noch die mahnenden Grabsteine oder die Kerzen, die auf die nächste Beerdigung warteten, waren Warnung genug, um mich zur Umkehr zu bewegen und Ritas Lächeln, das immer noch hell vor meinen Augen leuchtete, aufzuwiegen. 

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