Hey, du.
Erinnerst du dich an die Sommerferien bei deiner Oma? Vier Wochen nur du, deine Oma und dein Opa. Schon die Autofahrt zu ihr war für dich eine Weltreise. Erst wenn du den Turm gesehen hast, wusstest du, dass du gleich bei deiner Oma sein würdest. Du hast mit den Tieren gespielt. Die Hühner, Hasen, Tauben und Enten gefüttert und ihren Geräuschen gelauscht. Du hattest Angst vor dem Hahn der Nachbarn und hast ihn im Schuppen eingesperrt. Zum Glück haben die Nachbarn irgendwann ein Gatter eingebaut. Dennoch musstest du ab und an auf das Grundstück der Nachbarn, weil dort die einzige richtige Toilette war, wenn du mal groß musstest. Du hättest auch zu der Wohnung deiner Oma gehen können, aber die war für dich zu weit entfernt und die meiste Zeit warst du eh auf dem Hof und hast die Tiere erschreckt. Ihr seit nur in die Wohnung gefahren, wenn die Kanister kein Wasser mehr enthielten.
Erinnerst du dich? Es war aufregend, oder? Essen gab es immer am runden Tisch draußen im Freien und abends wurde eine Kerze angezündet, damit man Licht hatte. Selten wurde das Radio angeschaltet und einen Fernseher gab es gar nicht. Die Mückenstiche, die du jedes Mal bekommen hast, waren Auszeichnungen für die Zeit, die du an der frischen Luft verbracht hast.
Erinnerst du dich an die wenigen Male, als es morgens gewittert hat und ihr im Schlafcontainer gefrühstückt habt? Der Regen prallte unaufhörlich auf das Dach und die Blitze und der Donner machten die Atmosphäre komplett. Wenn du als erste wach warst, und dass warst du fast immer, hast du die Tiere aus ihren Käfigen und Ställen gelassen und dich gefreut, wenn sie schon auf dich gewartet haben. Nur bei den Tauben musstest du immer warten bis Oma dir die Erlaubnis gegeben hat.
Irgendwann hast ineinem eigenen Container geschlafen, in welchem vorher nur deine Kleidung gelagert wurde. Dieser stand direkt am Broilergehege. Diese großen weißen Hühner, die nur gehalten werden, damit man sie irgendwann essen kann. Eine wichtige Aufgabe war es, jeden Abend die Gehege zu schließen und die Tiere einzusperren, damit sie nicht abhauen konnten, aber auch damit kein Fuchs oder etwas ähnliches sie fressen konnte. Doch eines Abends wurde es bei den Broilern vergessen.
Erinnerst du dich an den Tag nach dem Fuchsangriff? Von vielen Broilern waren nur noch sechs über. Von den großen zwei Männchen und ein Weibchen und von den kleinen zwei Weibchen und ein Männchen. Woher du das wusstest? Du hast gedacht, dass die mit großem Kamm männlich und die mit kleinem Kamm weiblich seien. Den Anblick der Toten hast du zum Glück soweit vergessen, dass du dich nur noch an die aufgereihten Broiler erinnern kannst. Du warst traurig, dass so viele einfach so tot waren. Deine Oma hat dann mit einem Bekannten Fallen aufgestellt, um diesen Fuchs zu fangen. Ob es geklappt hat, weißt du nicht mehr, oder?
Erinnerst du dich, dass du nach diesem Vorfall dir einen Broiler ausgesucht hast? Du hast sie Lilly genannt und in einem Katzenkorb, den man verschließen konnte, überall mit hingenommen. Du hast nicht an die Angst gedacht, die das kleine Tier haben könnte. Du hast mit ihr gekuschelt und sie sehr lieb gewonnen.
Erinnerst du dich an die Zeiten, meist zum Ende der Sommerferien, in denen du im Container bleiben musstest, weil draußen die Broiler geschlachtet wurden? Normalerweise wurden Broiler immer Ende der Sommerferien geschlachtet, damit deine Eltern sie mitnehmen konnten für ihr Restaurant. Aber Lilly bekam von dir einen speziellen Ring um das Bein und durfte nicht, unter keinen Umständen, geschlachtet werden. Sie bekam eine Art Begnadigung.
Dann musstest du aber auch wieder gehen und somit blieb Lilly bei Oma zurück. Sie erzählte dir, wie vertraulich Lilly sei, dass sie immer, wenn sie Oma sah, an den Zaun kommen würde, um sie zu begrüßen. Auch berichtete Oma davon das deine Lilly Eier gelegt hatte, dabei hatte bisher keiner ihrer Broiler Eier gelegt. Hast du Lilly im darauffolgenden Jahr noch einmal sehen können? Weißt du es noch? Als die erste Lilly an Altersschwäche gestorben war, hast du dir im neuen Jahr eine neue Lilly gesucht. Diese bekam auch einen Ring und wurde begnadigt. So ging das einige Jahre lang. Doch keine nachfolgende war so wie die Erste. Vermisst du deine Lilly?
Erinnerst du dich an die Wassergemälde, die du gemalt hast? Mit nassen Fingern hast du auf die metallene Außenwand des Schuppens gemalt. Es waren keine besonderen Kunstwerke, aber du hattest deinen Spaß. Du hast vor vielen anderen Menschen schon Babytauben gesehen. Du hast Wochen ohne Fernseher überlebt. Und du hast gelernt, was es heißt Verantwortung für Tiere zu übernehmen.
Erinnerst du dich an die Katzen, die bei deiner Oma lebten? Kannst du dich an ihre Namen erinnern? Es waren graue mit schwarzen Streifen und orangene Katzen. Du hast dich gefreut, wenn sie zu dir gekommen sind und sich streicheln ließen. Aber die meiste Zeit liefen sie vor dir weg und du hast versucht sie zu fangen. Die armen Katzen und Kater. Einmal hatte Omas eine Katze sogar Babys, doch ihr überleben war ein Kampf. Warum genau sie Probleme hatten wusstest du nicht. Aber du hast mit Oma alles gegeben, um sie am Leben zu erhalten. Einem kleinen orangenen Kätzchen hast du Kohlewasser zu trinken gegeben, da Oma meinte, dass ihr das helfen könne. Doch auch sie hat es leider nicht geschafft. Du hast gelernt mit Verlust umzugehen. Dass es okay ist, traurig zu sein.
Erinnerst du dich an die anderen kleinen Kätzchen, die überlebt haben? Sie waren so süß. Doch diese traurigen Ereignisse hast du überwunden. Die Zeit bei deiner Oma war immer das Highlight deiner Ferien, über viele Jahre hinweg. Doch nun gibt es den Hof nicht mehr. Dein Opa ist nicht mehr am Leben und seine Ex-Frau hat sich den Hof gekrallt.
Du warst erleichtert auf der einen Seite, denn von da an konnte deine Oma wieder nur für sich leben und war nicht gezwungen jeden Tag zu malochen und nach seiner Pfeife zu tanzen. Auf der anderen Seite waren die tollen Sommer vorbei, in denen du die Natur genießen konntest. Es gab keine Tiere und vor allem keine Broiler mehr. Auch den Turm gab es irgendwann nicht mehr. Das eindeutige Zeichen war verschwunden, dass dir immer sagte, wann du bei deiner Oma sein würdest.
Doch so ist es eben. Die schönen Zeiten gehen irgendwann vorbei und du musst einsehen, dass sich manche Dinge verändern. Sei nicht traurig über die Tiere, um die du dich jetzt nicht mehr kümmern kannst, sondern freue dich über die neue Freiheit, die deine Oma gewonnen hat. Nun kannst du sie vielleicht öfter sehen, als nur eine kurze Zeit im Sommer. Erfreue dich an den Erinnerungen, die du dort gesammelt hast und bereue nicht jeden Mückenstich, den du erhalten hast.
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Schreibideen
Historia CortaIn diesem Buch teste ich mich an Kurzgeschichten basierend auf Schreibideen. Also erwartet zufällige Geschichten zu unterschiedlichsten Themen