"ACHTUNG!", schrie ich und all die Leute vor mir sprangen zu meiner Erleichterung gerade noch rechtzeitig aus dem Weg, als ich auch schon auf meinem Fahrrad an ihnen vorbeischoss.
Ich hatte mehr als nur verschlafen und wenn ich an meinem ersten Tag in einer neuen Schule nicht bereits als das neue Murmeltier bekannt werden wollte, hatte ich keine andere Wahl, als mich zu sputen. Und mein neuer Ruf war mir in diesem Moment weitaus wichtiger, als mögliche Unfallopfer.
An der alten Schule war ich bereits der Freak gewesen, das würde mir dieses Mal nicht passieren, da war ich fest entschlossen.
Mein Glück war es, dass die gesamte Strecke zur Schule bergab ging. Das wiederum machte es den Passanten auf dem Fuß- und Radweg jedoch wesentlich schwerer, mir auszuweichen.
Sobald ich die ersten Schüler in der gleichen braunen Uniform wahrnahm, wusste ich, dass ich der Schule näher kam und trat auf die Bremse. Gesittet fuhr ich das letzte Stück in einem angemessenen Tempo und bog schließlich auf das Schulgelände ab. An den Fahrradständern machte ich schließlich Halt und schloss es an.
Aufgeregt betrachtete ich die Schule. Sie war riesig und recht ansehnlich für eine Schule. Der Hof hingegen war nicht so schön wie der in meiner Heimat.
Bereit ein neues Leben zu beginnen bahnte ich mir meinen Weg hinein und durch die Flure, stets auf der Suche nach dem Lehrerzimmer.
Es dauerte nicht lange, bis ich mir eingestehen musste, dass ich wie erwartet keine Karten lesen kann und mich vollkommen verlaufen hatte. Jedenfalls war ich mir sicher, dass ich mich verlaufen hatte. Immerhin nahm ich nicht an, dass sich das Lehrerzimmer auf dem Dach befand. Wie zur Hölle mir nicht schon klar gewesen war, dass ich auf dem falschen Weg war, als ich bereits die erste Treppe hochging, obwohl Lehrerzimmer für gewöhnlich immer im Erdgeschoss waren? Nun, keine Ahnung. Es sah mir aber ähnlich.
Statt einem Haufen Lehrern hatte ich es also geschafft, eine gute Handvoll Jungs zu finden, die auf dem Dach Körbe warfen und ernst auf Lollis herumkauten, als wäre das Lebensziel diesen süßen und harten, ballförmigen Genuss durch pure Beißkraft zu zerstören.
Sie alle starrten mich irritiert an, als hätten sie noch nie ein Mädchen gesehen. Oder vielleicht einfach keines auf dem heiligen Dach erwartet. Wer wusste schon, was in den Köpfen heranwachsender stummelbewachsender Menschennachkömmlinge vor sich ging.
Meinem Gedankengang und wahrscheinlich auch meinem Gesichtsausdruck nach hätte man wohl meinen können, dass es auch für mich das erste Mal gewesen war, dass ich einen Jungen sah. Das war tatsächlich nur bedingt falsch.
Da ich bisher auf eine reine Mädchenschule gegangen war, hatte ich nur wenig Jungs kennen gelernt, doch ich hatte einen Bruder und dank ihm und seinem Freundeskreis war mir durchaus bewusst, dass Stummelträger definitiv nicht wie Mädchen waren.
Soto, mein Bruder, war definitiv eine Spezies für sich, das gleiche galt für seine Freunde. Sein DNA-Strang verlief zu 95% anders als der meine und das obwohl wir definitiv die gleichen Eltern hatten. Auch wenn er nicht so aussah, war ich fest davon überzeugt, dass in seinem Blut mehr Primat als Mensch nachzuweisen wäre.
"Was führt dich hier her?", fragte mich schließlich einer der Jungs, nachdem er sich räusperte.
"Ich hab nach einem Freiwilligen gesucht, der mir sagen kann, wo das Lehrerzimmer ist", meinte ich gelassen.
"Und dazu gehst du bis aufs Dach?", fragte der scheinbar kleinste unter ihnen. "Wäre es nicht leichter gewesen, unten um Hilfe zu bitten?"
"Die sahen alle beschäftigt aus", meinte ich rasch um meine Verlegenheit zu verbergen. Was es auch kostete, ich würde nicht zugeben, dass ich mich hierher verlaufen hatte.
"Und wir sehen nicht beschäftigt aus?", wollte einer von ihnen wissen.
"Ihr seht so aus, als hättet ihr nichts zu tun", gab ich zu.
"Helft ihr nicht!", sagte einer der größeren unter ihnen, doch keiner schien ihn zu hören.
"Ich wollte eh runter", meinte der Kleine. "Als Senior ist es meine Pflicht, einem Frischling zu helfen."
Seh ich aus wie ein Ferkel oder was?
Na danke.
Doch des guten Eindrucks wegen behielt ich meine Gedanken für mich und dankte ihm höflich, bevor ich ihm vom Dach folgte.
"Neu hier?", frage er, sobald wir die anderen hinter uns gelassen hatten und die Treppen hinab stiegen.
"Erster Tag, ja", meinte ich.
"Jahrgang?"
"Noch nicht allzu lang gereifter Wein", entfuhr es meinem Mund noch bevor ich es merkte und ihn hätte schließen können.
"Du bist witzig", meinte er. "Aber ich meinte eigentlich, in welche Stufe du kommst."
Als hätte ich nicht gewusst, was er meint. Aber ich musste zugeben, ich war beeindruckt, dass er mich verstanden hatte. Mein Bruder hätte wahrscheinlich nur gegrunzt und mich fragend angesehen.
"Zweiter."
"Und wieder ein Schützling mehr", grinste er freundlich. "Ich bin im dritten und letzten Jahr. Und dein Name war?"
"Sakura", sagte ich wieder einmal, bevor ich es merkte. "Nakamoto Sakura."
"Japanerin?", fragte er und ich nickte.
"Zu schade, ich wüsste da jemanden, der sich zu gern mit dir auf japanisch unterhalten würde", flüsterte er so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte.
"Wie bitte?", fragte ich.
"Ach nichts", meinte er. "Wir sind da."
Sobald er es ausgesprochen hatte, hielten wir an und standen direkt vor dem Lehrerzimmer.
"Also dann, Nakamoto Sakura", sagte er schließlich und schenkte mir ein breites Lächeln, das ihn irgendwie süß aussehen ließ. "Es war nett, dich kennen zu lernen, vielleicht begegnen wir uns ja mal wieder. Wenn du Schwierigkeiten hast, frag in Klasse 3-1 einfach nach Jo Jinho und ich werde dein Retter in der Not sein."
Er verbeugte sich ritterlich vor mir und verschwand in der Masse aus Schülern, die die Gänge um uns herum füllten. Während unseres Marsches hier her hatte ich gar nicht gemerkt, dass wir wieder unter so vielen Leuten waren. Witzig.
Ich drehte mich wieder der Tür zu, klopfte an den Türrahmen und trat ein.
Nachdem ich einem der Lehrer erklärt hatte, wer ich war, wurde ich zu meinem zukünftigen Klassenlehrer, Mr Jung geschickt, welchem ich dann ebenfalls erklärte, wer ich war.
Mr Jung nahm mich direkt mit zu seiner ersten Stunde in seiner und nun auch meiner Klasse mit. Ich schien beinahe unsichtbar zu sein, als wir eintraten, das selbe galt jedoch auch für Mr Jung.
Nachdem er die Klasse dreimal vergeblich um Aufmerksamkeit gebeten hatte und sie weiterhin schnatterten, als hätten sie ihn nicht wahrgenommen, knallte er schlussendlich mit dem Klassenbuch auf sein Lehrerpult.
"Ruhe jetzt hier und stillgestanden!", rief er, räusperte sich dann abermals und korrigierte sich. "Ich meine Ruhe und Aufmerksamkeit."
Es war nicht gerade schwer zu erraten, dass er seine Militärzeit gerade erst hinter sich hatte.
Kurz nachdem sich alle dem Lehrer zugewandt hatten und Stille eingekehrt war, schien mich der erste Mitschüler zu bemerken.
"Mr Jung", rief einer von ihnen mit einer Brille. "Wen haben Sie denn da mitgebracht?"
"Das, mein lieber Hyunggu, wollte ich euch gerade sagen, aber deine Ungeduld kam mir zuvor. Wenn dein Interesse an meinem Unterricht doch nur genauso ausgebildet wäre wie deine Neugier..."
Das brachte die Klasse zum Lachen.
Ich hingegen fragte mich eher, ob ich es mir lieber nicht mit diesem Lehrer verscherzen sollte. Oder besser noch, ich würde ihm keine meiner Schwächen offenbaren, dann könnte er mich auch nicht mit diesen vor versammelter Mannschaft bloßstellen.
"Also, wie ihr bereits erkannt habt, haben wir ein neues Gesicht unter uns", fuhr Mr Jung unbeirrt fort. "Sie wird von heute an dieser Klasse angehören. Stell dich doch selbst einmal vor."
Da das letzte wahrscheinlich mir galt, wurde ich sehr nervös.
"Hallo", sagte ich und holte einmal tief Luft um meine Nerven zu sammeln. "Mein Name ist Nakamoto Sakura und ich bin gerade erst von Japan nach Südkorea gekommen. Bitte kümmert euch gut um mich."
Ich verneigte mich vor der Klasse und betete, dass dieser Lehrer keine Fragen erlauben würde. Heute würde ich keine weitere Minute Aufmerksamkeit von so vielen Menschen zeitgleich ertragen.
"Dann setz dich doch einfach auf den freien Platz und wir beginnen mit der Anwesenheitskontrolle", sagte Mr Jung und öffnete das Klassenbuch.
Ich hingegen stand wie angewurzelt da und fragte mich, ob er mich verarschen wollte. Nachdem ich den Blick dreimal gründlich durch den Raum schweifen lassen hatte, war ich mir sicher, dass er sich einen Scherz mit mir erlauben wollte. Wie sollte ich mich auf einen freien Platz setzen, wenn jeder Platz besetzt war.
Einer der Jungen, der mir erstaunlich bekannt vorkam, wedelte wild mit der Hand durch die Luft und deutete auf seinen Sitznachbarn, während er mir direkt in die Augen sah. Was sollte mir das nun sagen?
Sein Sitznachbar hingegen sah nicht aus, als würde er ihm den Scherz übel nehmen. Er sah eher so aus, als wäre er vollkommen überrascht und verwirrt. Vielleicht einer der Sorte, der genauso begriffsstutzig war wie Soto.
Ich wandte meinen Blick von den beiden ab und lief noch einmal alle Sitzreihen mit den Augen ab um einen vermeintlich leeren Platz zu finden. Doch auch dieser Versuch sollte vergeblich sein.
"Nakamoto Sakura", las Mr Jung schließlich meinen Namen vor. "Gerade eingecheckt. Nanu?"
Ich sah zu ihm und bemerkte noch gerade eben so, wie er in die Klasse blickte um dann den Kopf irritiert zu mir zu drehen.
"Du stehst ja noch immer", meinte er. "Hab ich vergessen dir zu sagen, dass du dich neben Hoetaek setzen kannst? Hoetaek, hebe doch mal deine Hand."
Hoetaek erwies sich als der Junge, der mir eben schon wild zugewunken hatte um auf seinen Sitznachbarn zu deuten. Sollte das ein Scherz sein?
Doch dann erkannte ich es.
Hinter seinem Sitznachbarn, kaum erkennbar, wenn man mit anderen Dingen beschäftigt war, schwebte ein Faden durch die Luft. Ein golden schimmernder beinahe transparenter Faden.
Natürlich musste auch diese Schule einen von denen haben. Einen, der mir das Leben zur Hölle machen würde, wenn er herausfand, wer ich war. Ich hätte es eigentlich erkennen müssen, sobald ich ihn mit meinem Bruder verglichen hatte. Sie waren sich wirklich in so einigen Punkten ähnlich.
Und so machte ich mich auf den Weg zu Hoetaek und setzte mich unsicher auf den freien Platz neben ihm. Den freien Platz, von dem sein Sitznachbar noch so gerade eben aufspringen konnte, ehe ich auf seinem Schoss landete.
"Warst ein wenig nervös, was?", meinte Hoetaek. "Ich hab schon eine Weile gewunken."
"Ja", meinte ich mit einem schwachen Lachen. "Nervös."
So sehr ich den Beginn meines neuen Lebens eben noch liebte, so sehr verfluchte ich ihn jetzt. Ein Fehler und ich wäre wieder der gleiche Freak wie ich es immer war.
(A/N) Trailer zur Geschichte ist in diesem Kapitel :)
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Invisible You / Yuto PTG
FanfictionNakamoto Sakura lässt ihre Heimat hinter sich um ein neues Leben in Südkorea zu beginnen. Doch hätte sie geahnt, was sie an ihrer neuen Schule alles erwartet, hätte sie wahrscheinlich niemals Japan verlassen. Zu den neuen Freundschaften, die sie sch...