6 - Erkenntnisse

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Yuto hatte einfach nur dagesessen und ins Nichts gestarrt. Er sah so verloren und einsam aus, dass es mir das Herz zerriss.

"Halt den Wagen an, Papa!", rief ich.

Vor Schreck fuhr mein Vater rechts an den Straßenrand, ehe beide Elternteile mich ansahen, als hätte ich ihnen eben gesagt, dass sie Großeltern würden.

"Was ist los, Schatz?", fragte meine Mutter.

"Es tut mir wirklich, wirklich leid, aber ich muss gehen", sagte ich. "Es gibt da jemanden, den ich treffen muss."

"Du kennst doch noch gar keine Leute hier", meinte mein Vater irritiert.

"Es geht um einen Klassenkameraden", sagte ich. "Und es ist wirklich dringend."

"Schatz, ich weiß, dass du nicht mit willst, aber sag es dann doch bitte einfach", sagte meine Mutter den Tränen nahe. "Du hast jedes Essen auswärts mit uns verweigert, seit das mit deinem Bruder passiert ist."

"Mama", begann ich, "es tut mir wirklich leid, dass ich euch so lange auf mich habe warten lassen. Es stimmt, dass ich Essen gemieden habe, die nicht Zuhause waren. Aber dieses eine Mal hat es wirklich nichts mit Soto zu tun. Ich muss wirklich gehen, ich habe das Gefühl, dass ich es bereuen werde, wenn ich jetzt nicht gehe. Mehr als ich es bereut habe, an jenem Tag mit euch Essen gewesen zu sein. Bitte lass mich gehen, okay? Ich verspreche, dass ich morgen und übermorgen, von mir aus auch die komplette restliche Woche mit euch auswärts Essen gehe, wenn ihr es wollt!"

"Liebling", sagte mein Vater an meine Mutter gewandt. "Ich glaube, wir sollten sie gehen lassen, es scheint ihr wirklich ernst zu sein."

"Na schön", seufzte meine Mutter. "Wir bringen dir etwas mit. Komm nicht zu spät nach Hause!""Danke!", sagte ich und gab ihr zu ihrer Überraschung einen Kuss auf die Wange, ehe ich die Autotür aufschlug, ausstieg und die Tür hinter mir wieder zuschlug.

Und dann rannte ich, als hinge mein Leben davon ab.

Also circa so schnell wie meine Großmutter mütterlicherseits. Die Frau war aber auch schon mit Gehstock unterwegs.

Dennoch rannte ich so schnell, wie ich es eben konnte.

Und dann, als ich dem Schulgelände näher kam, sah ich ihn.

Er saß noch immer genauso da, wie er es eben noch getan hatte. Und er starrte weiterhin ins Nichts. Diese traurigen Augen würden jedem das Herz brechen.

"Hab ich dich", sagte ich atemlos, als ich endlich neben ihm stand.

"Sakura?", fragte er überrascht. "Was machst du denn hier?"

"Ich ha di gesn und da muse i einfa kom", japste ich und verschluckte gefühlt jedes Wort, weil ich so schnell atmete.

"Was?", fragte er verständnislos.

Wer könnte es ihm verübeln?

Ich hob die Hand um ihm zu signalisieren, dass er kurz warten sollte, bis ich meine Lungen wieder voller Luft hätte und drückte mir die andere Hand in die Seite um die Seitenstiche zu bekämpfen.

Einen Kilometer laufen hatte mich gekillt. Beinahe jedenfalls.

Nachdem ich mich endlich beruhigt hatte, räusperte ich mich schließlich.

"Ich hab dich gesehen und da musste ich einfach kommen", wiederholte ich mich. "Das wollte ich gerade sagen."

"Und warum?", fragte er neugierig. "Du wolltest mich doch ignorieren."

"Eben genau deshalb!", erklärte ich. "Ich bin hier um dir zu sagen, dass ich es mir anders überlegt habe."

"Was?"

"Ich werde dir helfen, so gut ich kann", sagte ich. "Angefangen damit, dass du nicht mehr alleine sein musst. Also in der Öffentlichkeit bevorzuge ich es, wenn ich nicht mit dir reden muss, das ist klar. Aber wir können gerne miteinander reden, wenn ich nicht gerade beobachtet werde.
Ansonsten finden wir sicher auch einen Weg um zu kommunizieren. Jedenfalls ich, du kannst ja reden wie du willst und wann du willst. Und was deine Aufgabe betrifft, werde ich dir so gut beistehen, wie ich es eben kann. Du musst deinen Gedanken rausfinden, das kann ich nie im Leben schaffen, aber solltest du für die Erfüllung etwas benötigen, wofür du mich brauchst, dann sag es mir und ich helfe dir!"

"Meinst du das Ernst?", fragte er skeptisch.

"Todernst!"

"Wenn mein Körper nicht gerade im Krankenhausbett faullenzen würde, könnte ich dich jetzt wirklich knuddeln!", meinte er. "Aber leider habe ich momentan ein kleines Problem mit Berührungen, du weißt was ich meine."

"Schon verstanden", lachte ich. "Wenn wir dich erstmal in deinen Körper zurück gestopft haben, können wir das noch immer nachholen."

"Das werden wir, denn dann werde ich noch viel dankbarer sein, als ich es jetzt schon bin!", meinte er und sein ganzes Gesicht strahlte.

Er sah wirklich gut aus, wenn er lächelte.

Und seine Augen, starrten schon wieder in meine Seele, während ich in einem Meer funkelnder Lichter eintauchte, die in den Tiefen seiner Augen umhersprangen.

"Kann ich dich etwas fragen?", erkundigte er sich schließlich.

"Klar", gab ich zurück.

"Warum hast du es dir anders überlegt?"

"Uff", entfuhr es mir und ich setzte mich neben ihm auf den Zaun. "Das wird eine lange Geschichte, also setzte ich mich lieber."

Yuto sah mich nachdenklich an, während ich tief Luft holte und überlegte, wie ich das erklären sollte.

"Ich habe dir ja bereits gesagt, dass ich vor dir schon einmal einer wandernden Seele begegnet bin?" Nach einem eifrigen Nicken seinerseits fuhr ich fort. "Diese Seele hatte das gleiche Problem wie du. Durch einen Unfall landete der Körper im Koma und die Seele wanderte umher auf der Suche nach dem letzten Gedanken. Das Ziel wieder aufzuwachen. Da ich dieser Person schon vor dem Unfall nahe gestanden habe, war es ebenfalls mein Ziel, die Aufgabe zu lösen und zu helfen. Doch das hat nicht so funktioniert, wie wir es wollten. Schließlich war die gegebene Zeit abgelaufen und der Körper starb. Oder eher gesagt, die Familie ließ den Stecker ziehen. Ich war außer mir, doch was noch schlimmer war, die Seele war nicht fort. Nicht so, wie ich es erwartet hätte jedenfalls."

Da ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten, legte ich eine kurze Pause ein um durchzuatmen und mich zu sammeln.

Yuto sah aus, als wollte er etwas sagen, wusste jedoch nicht so recht, was. Und so schwieg er mit einem Hauch von Traurigkeit und Sorge im Blick.

"Anstatt einer Seele war nun ein Geist mein stetiger Begleiter. Wir hatten noch eine Weile die Hoffnung, dass wir ihn vielleicht retten könnten. Auch wenn er nicht mehr ins Leben zurückkommen würde, so musste ich es doch wenigstens schaffen, dass er in Frieden ruhen kann. Aber auch das gelang mir nicht. Ich habe erfahren, das Geister ebenfalls nur eine gewisse Zeit haben, bevor sie zu bösen Geistern werden. Bei manchen geht es schnell, andere kämpfen noch eine Weile dagegen an, aber schlussendlich werden sie alle böse."

Wieder einmal in meinem Leben hasste ich mich dafür, dass ich ihn nicht hatte retten können.

Der eine, der meine erste wandernde Seele war.

"Als ich dich getroffen habe, hatte ich Angst", gab ich offen zu. "Ich hatte Angst, dass ich anfange, dich zu mögen, wenn ich dich näher kennen lerne. Ich hatte Angst, dass ich auch dir nicht helfen kann und erneut zusehen muss, wie aus einer guten Seele ein böser Geist wird. Stück für Stück. Ich habe ehrlich gesagt noch immer Angst, dass das passiert, denn noch einmal halte ich das nicht aus."

"Aber du bist gekommen", warf Yuto ein.

"Weil du traurig bist", sagte ich ohne nachzudenken und Yuto sah mich überrascht an.

"Was meinst du?"

"Nun, es ist offensichtlich, dass es dir nicht gut damit geht, dass niemand dich hören oder sehen kann", sagte ich. "Und dann hast du endlich jemanden gefunden, der es eben doch kann und diese doofe Nuss sagt dir, dass du sie in Ruhe lassen sollst. Wer wäre da nicht geknickt?"

"Wahr."

"Und um ehrlich zu sein, ist mir bewusst, dass die Chancen dich zurück ins Leben zu holen, besser stehen, wenn du Hilfe hast. Und jemanden, der dich bei Verstand und Laune hält. Solltest du ein böser Geist werden, werde ich mich hassen, das steht fest. Aber ich schätze ich könnte auch niemals mehr in den Spiegel sehen, wenn du stirbst und ich nicht behaupten kann, dass ich es definitiv versucht habe."

Yuto sah mich schweigend und nachdenklich an. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was in diesem Moment in seinem Kopf vor sich ging.

"Also lass es uns gemeinsam versuchen", sagte ich lächelnd.

"Danke!", platzte es aus ihm heraus.

"Das heißt aber auch, dass wir tief graben müssen, das weißt du, oder?"

"Ich werde alles tun um zu verhindern, dass ich sterbe", sagte er entschlossen.

"Gut!"

"Und um zu verhindern, dass du noch einem bösen Geist begegnest." Das sagte er so leise, dass ich es kaum verstehen konnte.

"Ich werde darüber nachdenken, was ich tun kann um zu helfen", fuhr ich schließlich fort und riss dann die Augen weit auf. "Du bist doch nicht etwa einem Verbrechen zum Ofer gefallen, oder?"

"Hm?"

"Naja, es hat niemand versucht dich umzubringen oder?"

"Nein, das war ein Unfall. Ich bin einfach nur ausgerutscht und hab dabei ein Gerüst umgeworfen, das dann auf mir gelandet ist", erklärte Yuto. "Wieso? Macht es einen Unterschied, ob es ein Unfall oder ein Verbrechen war?"

"Definitiv", sagte ich ernst. "Bei solchen Geschichten endet es doch immer gleich. Der Held kommt zur Rettung der Heldin, stellt fest, dass es die Aufgabe ist einen Mörder zu fassen, das wiederum ist so schwierig, dass jemand verletzt wird und am Ende landet der Mörder hoffentlich doch noch im Gefängnis. Es macht also einen großen Unterschied, ob dein letzter Gedanke sagt, dass ich für dich einen Mörder fassen muss oder es dein Wunsch war noch ein letztes Mal mit der Katze des Nachbarn zu spielen."

"Ich habe während des Gespräches mit dir zwei Dinge festgestellt", meinte Yuto.

Ich sah ihn neugierig und fragend an.

"Ich hätte tatsächlich mehr mit der Katze meines Nachbarn spielen sollen, nur leider hatte er nie eine", sagte er als wäre es ein ernsthaftes Problem.

"Und das andere?", fragte ich.

"Du liest zu viele Krimis!"

Wahr.

"Warum sitzt du eigentlich hier rum?", fragte ich nach einem Moment des Schweigens. "Hast du keinen Ort an den du gehen kannst?"

"Ich kann nach Hause gehen", sagte Yuto. "Aber irgendwie war mir nach deiner Abfuhr nicht danach zu Hause zu sitzen und meiner Familie dabei zuzuhören, dass es meinem Körper auch nicht besser geht."

"Verstehe", gab ich geknickt zu. "Tut mir leid, dass ich es dir auch nicht leichter gemacht habe.""Jetzt bist du doch da", lächelte Yuto. "Ich werde nachher nach Hause gehen, aber erst sollte ich dich nach Hause bringen."

"Schon gut", meinte ich. "Ich kann allein nach Hause gehen, ist auch nicht allzu weit."

"Ich mag gerade nicht wirklich menschlich sein, aber meine menschlichen Manieren habe ich noch", sagte er fest entschlossen. "Ich bringe dich."

"Als könntest du viel machen, wenn mich jemand überfällt", gab ich von mir, stand aber auf und wartete darauf, dass er mich begleitete.

"Als würden Zuhause meine Eltern warten und sich beschweren, wenn ich später komme", setzte er hinterher und sprang von der Mauer um mich zu begleiten. "Die würden sich wahrscheinlich eher freuen, wenn ich aufwache."

Wir schlenderten den Berg hinauf und kamen an dem Park vorbei, an dem ich ihm vor wenigen Stunden einen Korb gegeben hatte.

"Der Park ist wirklich schön", meinte ich um die Stille zwischen uns zu vertreiben.

"Nicht so schön wie der, in dem ich immer bin", erklärte er. "Der würde dir auch gefallen, vielleicht gehen wir ja mal zusammen hin."

"Wenn du wieder als Mensch unter uns weilst?"

"Das wäre schön."

Wenn du wüsstest, dass du mich dann nicht mehr kennst...

Invisible You / Yuto PTGWo Geschichten leben. Entdecke jetzt