Die Maus sauste davon. Ihr Herz pochte so schnell wie nie. Noch nie hatte sie so viel Angst in ihrem Leben. Noch nie war sie so schnell weggerannt wie in diesem Moment. Aber sie musste, weil diese rotbraungestreifte Katze sie verfolgte. Wo könnte sie nur hin? Kurz hielt sie an, nur um von rechts nach links zu schauen. Ihre kleine rosa Schnauze zuckte vor Anstrengung. Nach links. Sie nahm schon den Duft ihrer Verfolgerin wahr. Als sie in diesem Moment loslaufen wollte, spürte sie als letztes die Krallen der Katze in ihrem Rücken und die Lebenskraft verließ sie.
Da wache ich auf. So ein deprimierender Traum. Und schon wieder alles so hell in diesem Zimmer. Wieso eigentlich? Ich hatte wohl vergessen, das Rollo wieder runterzumachen. Mum hat es gestern nur zum Lüften kurz hochgemacht, weil sie weiß, wie sehr ich das Licht hasse. Aber nachdem ich wieder gedankenverloren ins Bett gefallen bin, habe ich das wohl vergessen. Wieso muss ich eigentlich aufstehen?
Ich greife mit der einen Hand zu meinem Nachttisch und hole mein Traumtagebuch heraus. Kurz mustere ich es. Ein schwarzer Einband, geschlossen durch den schwarzen Gummizug und eine kleine Öse für meinen schwarzen Kuli. Es war nicht teuer, dieses Buch. Aber es ist mir sofort ins Auge gefallen und da musste ich es haben. Als ich es öffne, fallen die gegilbten Blätter zur Seite. Zunächst schlage ich die Seite meines letzten Traumes auf. Ein Tiger auf dem Mond, gefangen in einem Käfig. Skurriler Traum. Ich war noch nie auf dem Mond, in meinen Träumen aber schon so oft. Immer wieder. Ich wollte mal Astronaut werden und auf dem Mond leben. Dann hätte ich meiner Mum ein paar Mondsteine mitgebracht.
»Die leuchten im Dunkeln!«, habe ich Mum immer gesagt. »Tun sie nicht, Michael. Es sind Steine und der Mond leuchtet nur zur Erde.« Meine Mum hat mir nie glauben wollen. »Ich werde dir welche mitbringen, dann bringen die Licht in dein Leben!«, schlug ich vor. Und bevor ich mich versah, hatte meine Mum Tränen in den Augen und fuhr mir durchs Haar. Dann hat sie mich aus der Küche geschickt und Essen vorbereitet. So war meine Mum. Alles verdrängt.
Ich richte mich etwas auf und schreibe meinen Traum nieder. Das hilft mir beim Denken, meinte Mum. Tatsächlich hilft es ein wenig. Wenn ich irgendwas aufschreibe, muss ich es mir nicht mehr merken. Früher hatte ich immer wieder Kopfschmerzen davon, durch das Schreiben aber nicht mehr. Scheint wohl psychosomatische Hintergründe zu haben, von denen ich aber keine Ahnung habe. Aber von so vielem habe ich keine Ahnung. In meinem Traum war ich die Maus. Kurz fasse ich mir ins Gesicht, um zu überprüfen, ob da nicht doch Schnurrhaare sind. Nein, da sind nur die Bartstoppeln am Kinn. Aber man kann nie wissen. Das ist ein bisschen wie Kafkas »Die Verwandlung«, als er zur Kakerlake wird. Da schaue ich dann doch lieber zweimal nach, ob sich was verändert. Zumindest in der Farbe stimme ich mit der Maus überein. Ich trage zum Schlafen immer ein dunkelgraues T-Shirt und eine hellgraue Jogginghose. In anderen Sachen finde ich keine Ruhe.
Ich beschließe aufzustehen und klappe das Traumtagebuch zu. Als ich die Decke zurückschlage, bemerke ich die Erhebung, die sich an meiner Schlafhose abzeichnet. Verdammt, wann ist das denn passiert? Also, wo sind die Zeitschriften? Mit der Hand suche ich eine der Magazine unter meinem Bett und hole es vor. Diese Bilder sind zwar absolut nicht mein Ding, aber helfen bei solchen Sachen. Auf der Zeitschrift ist ein oberkörperfreier, weißer Mann zu sehen und lächelt mich an. Der Mund leicht geöffnet, darunter diese strahlend weißen Zähne. Im Hintergrund sieht man den Strand und diese Muskeln laden dazu ein, darüber zu streichen. Ich bekomme bei dem Gedanken Gänsehaut, wie er mich berühren könnte und werde noch härter, als ich an den Geschmack seiner wahrscheinlich salzigen Lippen denke. Vielleicht war er im Meer schwimmen, dann duftet er bestimmt danach.
Ich schiebe meine Hose bis zu den Knien runter und mein Schwanz springt mir entgegen. Wieder einmal erschrecke ich, als ich bemerke, wie weiß meine Haut ist. Ich bin ein geborenes Kellerkind und würde am liebsten nie das Haus verlassen. Immerhin wurde ich im Keller gezeugt. Ich umfasse ihn, während ich das Bild des Typen anstarre und bewege meine Hand auf und ab. Mir entfährt ein Stöhnen und ich schließe die Augen. Er und ich zusammen an diesem Strand. Ich bemerke, wie mich der Lustpunkt noch mehr bündelt als zuvor. Sanft fahre ich über den Kopf und streichle mich ein wenig, nur um dann fester zuzupacken und mir immer schneller einen runterzuholen. Diese perfekten blonden Haare. Die blauen Augen. Das symmetrische Gesicht. Das gerade zu einladene Lächeln und dieser wunderschöne, prächtige Schwanz, der seinen Lendenbereich ziert. Ich atme schneller und bin kurz davor zu kommen. Weiter vorstellen. Er küsst mich mit diesen vollen Lippen und ich schmecke das Salz auf meiner Zunge. Ich will mehr von ihm. Schon ploppt die Vorstellung von ihm in mir auf. Ein erleichtertes Gefühl steigt in mir auf, als ich die leicht warme Flüssigkeit auf meiner Hand spüre. Ich bin gerade gekommen und öffne wieder die Augen. Kurz mustere ich mein Sperma und schaue es an. Wie viele Kinder daraus entstehen könnten und nie werden. Ich nehme den allseits bekannten Geruch von Kastanienblüten wahr. So wie es immer riecht, wenn ich gekommen bin. Vorsichtig greife ich zum Nachttisch, um ein Papiertuch aus der Schachtel zu ziehen und mich sauber zu machen. Anschließend ziehe ich die Hose wieder hoch, packe die Zeitschrift zu den anderen und wuppe mich hoch. Zu viel Schwung für mich, also halte ich mich kurz am Schreibtisch gegenüber des Bettes fest. Zu viel Schwung in meinem Leben. Warum bin ich so energiegeladen heute? Unmenschlich, besonders wenn ich noch keinen Kaffee und keine Morgenzigarette hatte. Manchmal habe ich diese Kreislaufschwierigkeiten.
Ich sehe mich im Zimmer um. Es ist winzig und länglich geschnitten. Weiße Wände, hellbraun vertäftelter Holzboden. Aber ansonsten alles in meiner Lieblingsfarbe gehalten: Grau. Meistens gemischt in verschienen Graustuften bis hin zu schwarz. Keine Bilder oder Poster. Ein Bücherregal zuzüglich des Bettes und des Schreibtischs. Und ein Kleiderschrank, der die Hälfte des Zimmers einnimmt. Ich sollte echt ins Bad gehen, entscheide mich dann erstmal in die Küche zu gehen. Mein Magen knurrt zustimmend und ich wandere mit nackten Füßen ins Nebenzimmer, die Küche. Alles in weißen Fließen gehalten. Mum ist noch nicht wach, schließlich haben wir es kurz nach fünf. Aus einem der Hochschränke hole ich alles Nötige für meine Cornflakes, fülle es in eine Schüssel und stelle es für 30 Sekunden in die Mikrowelle. Ich hasse knackende Essgeräusche, also wärme ich mein Müsli lieber vor und lasse die Flakes labrig werden. Dann muss ich nicht wirklich kaufen, sondern kann es mir auf der Zunge zergehen lassen.
Meine Mutter sagt immer, dass das seniorenfreundlich wäre. Ich nenne es mundgerecht. Vielleicht bin ich aber auch ein Senior. Schließlich fühle ich mich immer wieder so alt, wenn ich aufstehe und mein gesamter Körper knackt. Ich weiß, es ist nicht gesund und ich müsste zum Physiotherapeuten. Aber ich muss gar nichts.
Als die 30 Sekunden endlich vorbei sind, hole ich mein sogenanntes „Essen“ heraus und beginne es in mich reinzuschaufeln, während ich gegen die Küchentheke lehne. Erst 5:23 Uhr. Shit, das ist noch viel zu früh. Aber was soll man machen, wenn man meistens erst um drei Uhr einschläft. Also schlurfe ich wieder in mein Bett um dort weiterzudösen. Keine Lust auf die Schule. Aber ich muss. Wie immer. Das ist das einzige, worauf meine Mum besteht. Alles andere stellt sie mir wenigstens frei. Also schlafe ich nochmal zwei Stunden, nur um mich dann wirklich mal fertig zu machen. Aber bis es soweit ist, träume ich nochmal.

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ein augenblick
Novela Juvenil[Plotbunny] Ein Ort. Ein Augenblick. Eine Minute. Michael ist ein schüchterner Junge. Zart. Etwas kleiner als die anderen. Er fällt nicht besonders auf. Er ist einfach nur einer von vielen. Er will nur eins: Diesen einzigen Augenblick, von dem alle...