Kapitel 6 - Kummer

103 7 13
                                    

(Elektas Sicht)

Meine Füße taten weh, meine Kraft war erschöpft, meine Atmung ging stoßweise. Keuchend schleppte ich mich zu einer Bank und setzte mich dankbar auf sie. Das stechende Gefühl der Erschöpfung wich aus meinen Beinen und ein wohliges Gefühl der Erleichterung machte sich in ihnen breit. Okay Elekta, was nun?

Unsicher blickte ich mich um. Alles wirkte sehr modern, anders als in der verlassenen Gegend, in dem sich die Menschen versteckt hatten. Eine große Uhr hing an einem der neuen Gebäude und verriet mir, dass ich schon seit zwei Stunden unterwegs war. Mein Blick wanderte über die Straßen, die Läden und Gebäude. Wo bin ich? Es waren nur wenige Leute auf der Straße, die mir sicher weiter geholfen hätten, doch dann hätte ich ihnen erklären müssen, warum ich nicht wusste wo ich war und dass konnte ich nicht.

Ein angenehmer Duft nach Vanille und Gebäck schwang in der Luft mit, doch den nahm ich nur am Rande wahr. Denn ein beißender Geschmack nach rostigen Metall und Salz lag auf meiner Zunge und ich verzog angewidert das Gesicht, als ich bemerkte, dass ich mir auf die Zunge gebissen hatte. Auf nicht mehr ganz so wackeligen Beinen stand ich auf und lief zu einem Wasserspender in der Nähe. Ich sah zu wie das Blut vom Wasser weggespült wurde, als die Bilder des Menschen vor meinen Augen aufblitzten, der für mich sein Leben gelassen hatte. Wütend biss ich die Zähne zusammen und schlug mit den Fäusten auf das Becken ein, wobei ein eisiger Schmerz meine Nerven entlang strich. Ich ließ die Tränen zu, die lautlos meine Wangen hinunter liefen. Schuldgefühle zerrten an mir, drohten mich aufzufressen. Er hatte nichts getan und musste sterben. Wenn ich heute etwas gelernt hatte, dann dass das Leben unfair war. Ich stütze mich mit beiden Armen am Becken ab und verweilte so für eine Weile, ließ mich meiner Trauer hin und machte mir Vorwürfe, ehe ich mich wieder umdrehte und weiter lief.

Ich weigerte mich etwas zu essen oder zu trinken, lief bis meine Beine mich nicht mehr tragen konnten. Das war meine Bestrafung. Mein Körper rebellierte und wurde leicht. Meine Augenlider flatterten, wollten sich schließen und meine Augen vor dem Leid schützen, doch ich kämpfte gegen sie an. Mein Kopf schwirrte und die Welt fing an sich zu drehen, hing kopfüber. Das Letzte was ich sah, war eine Gestalt, die auf mich zukam. Ihr Mund bewegte sich, versuchte mir etwas mitzuteilen, doch ich hörte sie nicht. Die Schwärze schlich sich in mein Blickfeld, machte mich blind und ich fiel auf den steinernen Boden, der beim Aufprall meine Knochen vibrieren ließ.

(Kevins Sicht)

Ich verließ den Laden, packte meine Besorgungen zusammen und rückte meine Handschuhe zurecht. Draußen, auf der Straße, war es kühl und windig, was mir nur gelegen kam, denn so würden meine Handschuhe nicht weiter auffallen. Unauffällig schaute ich über meine linke Schulter, überprüfte ob mich jemand beobachtete. Doch die Straßen waren leer, nur eine Frau und ihr Mann gingen mit ihrem Hund spazieren, wobei sie mir keinerlei Beachtung schenkten.

Sie lachten fröhlich vor sich hin, so fröhlich, dass ich nur missbilligend drein schauen konnte.

Nochmal zog ich meine Handschuhe zurecht und überprüfte die rechte Seite. Verwundert runzelte ich die Stirn, als ich sie erblickte. Sie taumelte aus einer Seitenstraße, unfähig sich auf den Beinen zuhalten, auf mich zu. Ich wollte weg gehen, fliehen, doch irgendwas an ihr erschien mir seltsam, veranlasste mich dazu stehen zu bleiben.

Also lief ich auf sie zu, mir drohte keine Gefahr, sie konnte sich schließlich nicht mal auf beiden Beinen halten. "Hallo?" fragte ich, doch erhielt keine Antwort, sie schaute mich lediglich an, runzelte die Stirn. Nein, sie schaute durch mich hindurch, als wäre ich nicht da. "Ist alles in Ordnung?" fragte ich lauter, um zu ihr durchzudringen, doch genau in dem Moment sackte sie vor mir zusammen, zu schnell und zu plötzlich, als dass ich hätte reagieren können. Ich hätte sie so liegen lassen können, einfach weiter laufen können, als hätte ich nichts gesehen - was ich auch gerne gemacht hätte - doch ich konnte nicht. Ich hockte mich neben sie auf den Boden und strich ihr das Haar aus dem Gesicht, um sie besser betrachten zu können. Dunkele Augenringe zierten ihre geschlossenen Augen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet und rissig. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und ihre hohen Wangenknochen traten sichtlich hervor. Was ist denn nur mit ihr passiert? Für gewöhnlich achteten sie sehr darauf, dass es ihren Leuten gut ging. Doch sie war komplett ausgehungert und schwach. Nervös blickte ich mich um. Der Wind wurde stärker und hatte die Straßen leer gefegt, selbst das Paar mit ihrem Hund hatte die Flucht ergriffen. Ich konnte sie nicht mitnehmen, es war zu gefährlich. Wenn ich sie hier liegen lassen würde, würde sie sicherlich morgen jemand finden. Wenn sie bis dahin noch lebte. Während ich innerlich mit mir rang, betrachtete ich nochmal die Gestalt vor meinen Füßen. Sie hatte viel durchgemacht, dass konnte man ihr ansehen und gewöhnlich war sie auch nicht, dass stand fest. Denn selbst wenn sie schliefen, hatte ihr Gesicht einen friedlichen Ausdruck, nicht wie sie, deren Gesicht schmerzverzerrt war und ihren Kummer preisgab.

"Verdammt." murmelte ich, als ich sie vorsichtig hochhob und zum Auto trug.

MenschenfängerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt