Der Brief

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P.o.v Tim
Hoch. Es ist sehr hoch hier. Ängstlich werfe ich einen Blick über den Rand des Daches auf den ich zitternd stehe. Ich bin auf den Post Tower. Oben. Sehr weit oben. Auf 160 m Höhe.

Fester klammere ich mich an die Metallstange zwischen meinen Händen. Das Geländer ist eiskalt. Das ist allerdings mein geringstes Problem. Schließlich stehe ich mitten in der Nacht, mit Höhenangst, auf einem Hochhaus in Bonn, zu dem es offiziell nicht mal einen Zugang gibt.

Doch Jan hatte mir vor einiger Zeit eine geheime Tür gezeigt, er ist oft hierhergekommen. Jan...mein Herz versetzte mir einen Stich. Augenblicklich begann ich heftiger zu zittern. Er liebte es stundenlang die Höhe aufzusuchen und seinen Gedanken nachzuhängen. Oft kam er erst spät abends nachhause. Das war einer der wenigen Sachen in denen wir uns komplett abgrenzten. Zwischendrin befürchtete ich schon, er würde dort einen heftigen, epileptischen Anfall erleiden und ich wäre nicht da, um ihn zu helfen. Ich würde mich schließlich nie so weit nach oben trauen. Wenn ich nur gewusst hätte, dass die Epilepsie nicht Grund meiner Angst hätte sein sollen.

Dennoch stehe ich hier oben, komme vor Angst fast um, wenn ich mich einen Zentimeter von dem Geländer weg bewege. Meine Augen fest zusammengekniffen, löse ich vorsichtig eine Hand vom Geländer und taste mich unbeholfen vorwärts. Mir kommt es vor als hätte ich gleich keine Kraft mehr irgendetwas zu tun. Aber ich habe einen Plan und ich werde ihn durchziehen. Ich kann nicht aufgeben.

Mein Körper fühlt sich an, als hätte ich gleich keine Kontrolle mehr. So wie ich mich mein ganzes Leben gefühlt habe. Kontrolllos. Allein. Unfähig.

Und wie ich nun halb zusammenbrechend am Geländer eines Daches des größten Hauses in Bonn stehe, sehe ich endgültig ein, dass ich genau das auch bin. Unzurechnungsfähig. Nichts könnend. Verlassen.

Ich war nicht mal in der Lage, die einzige Konstante in meinem Leben bei mir zu behalten. Jan. Nicht mal er ist bei mir geblieben. Ich bin einfach zu instabil. Zu schwach. Zu kaputt. Einfach unnötig.

Wer braucht schon ein Schiffswrack ohne Schätze. Ein Schiffswrack ohne Chance auf Wiederaufbauten. Niemand. Es bleibt versunken liegen.

Tränen laufen mit über die Wangen, als die Erkenntnis auf mich einstürzt, wie der Schacht eines labilen Bergwerkes.

Nein, ich gebe die Kontrolle noch nicht ab.

Ich muss wenigstens einmal in meinem Leben die richtige Entscheidung treffen. Ein einziges Mal.

Vorsichtig bewege ich mich Millimeter für Millimeter weiter. Immer wieder packen mich Heulkrämpfe oder Zitteranfälle und ich sinke auf dem Boden zusammen. Doch ich raffe mich immer wieder auf. Für Jan.

Leicht öffne ich ein Auge. Ich bin fast in der Mitte angekommen. Es ist so hoch. So verdammt hoch. Ich drehe mich zur Seite und versuche die Tränen zu stoppen, die ungehindert meine Wangen hinunter tropfen. Es funktioniert nicht.Wie nie etwas in meinem Leben funktioniert hatte.

Schlotternd presse ich mich gegen das Geländer und zwinge mich dazu, hinabzuschauen.

Erstaunlich, dass ich noch nicht vor lauter Angst umgekommen bin.

Von hier oben, so scheiße weit oben, sieht alles aus wie in einer Legostadt. So minimalistisch. Nur vereinzelt werden bestimmte Orte mit Lichtern hervorgehoben. Der Rest versinkt im Schleier der Dunkelheit. Jan hat gerne mit Lego gespielt.

Mein Schluchzen könnte man garantiert durch ganz Bonn hören. Aber interessieren würde es trotzdem keinen. Ich bin unwichtig. Ich bin irrelevant.

Ich bin viel, viel zu weit oben. Das alles ist viel, viel zu weit unten. Und ich bin viel, viel zu entschlossen um jetzt zurückzugehen.

Ich lasse meinen tränenverschleierten Blick weiter über die Stadt gleiten. Es ist alles so vermeintlich perfekt hier. Die Leute stehen auf, gehen essen, gehen arbeiten, gehen einkaufen, fahren Nachhause. Es gibt keine Probleme hier. Es läuft jeden Tag immer alles nach Plan. Das glaubt man zumindest.

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