Helltürkises Salzwasser umspült meine braungebrannten Fußgelenke. Mit wehenden Locken rennt sie durch den heißen Sand auf mich zu, auf direktem Weg ins Wasser. Tropfen treffen meine Augen und bringen sie zum Brennen, doch der Anblick, der sich mir bietet, bringt sie eher zum Leuchten. Kilometerlanger Sandstrand. Glasklares Meerwasser, das da hinten in weiter Ferne den indigofarbenen Himmel berührt. Unser dottergelb angemalter Campingbus am staubigen Straßenrand. Keine anderen Lebewesen in Sicht. Nur wir beide im Bikini, im Meer von Sizilien. Unser letztes Schuljahr hinter uns, ein großes Ungewisses namens Leben vor uns. Die Gedanken an die Zukunft haben wir zuhause in unseren Kinderzimmern gelassen, auf unserem einmonatigen Roadtrip brauchen wir die nicht. Denn der soll vor allem eines machen: Spaß. Und das ist auch der Fall. Sie ist bereits untergetaucht und durchstößt hinter mir wieder prustend die Wasseroberfläche, während meine Knie immer noch trocken sind, ich unschlüssig, ob Meerwasser Mitte Oktober vielleicht auch in Sizilien ein bisschen zu eisig ist. Doch wenn sie mich durch solche Augen ansieht, dunkelblauer als der Ozean, in dem wir uns befinden, umrahmt von haselnussbraunen Wimpern, die durch die darin festhängenden Salzkörner noch dichter erscheinen...da kann ich nicht nein sagen.Langsam lasse ich mich ins Nasse gleiten, stoße mich vom sandigen Grund ab und bewege mich mit kräftigen Schwimmzügen in Richtung Freiheit. Ich mache die Augen zu, denn es spielt keine Rolle, welchen Kurs ich genau aufnehme, hauptsache neben ihr und ohne beschwerte Gedanken an alles. Schweigend schwimmen wir nebeneinander dahin, ich linse nach hinten, wir sind schon mindestens zweihundert Meter vom Ufer entfernt. Doch sie macht keinerlei Anstalten umzudrehen, durchpflügt die Wellen mit verbissenem Blick, fast so, als habe sie ein bestimmtes Ziel. Gerade als ich den Mund öffne und sie zum Umkehren überreden will, platzt es aus ihr heraus: „Es gibt Neuigkeiten von Jonas. Er wird höchstwahrscheinlich nicht mehr aufwachen." Sie sagt das mit einer fast schon beunruhigenden Ruhe, als wäre es eine Vier in Physik oder ein Fleck auf der neuen Jeans, etwas Ärgerliches, aber Alltägliches. Doch ich drohe bei dem Gedanken an den Zustand ihres kleinen Bruders zu zerbröseln, so sehr brennt mich dieses Gefühl irgendwo zwischen Mitleid und Schuld von innen heraus aus. Ich hole tief Luft, um es zum millionten Mal seit April auszusprechen: „E- es, tut m-" „Du brauchst es nicht schon wieder zu sagen, ich weiß, dass es dir leidtut. Aber ändern tut das halt auch nichts", unterbricht sie mich. Ihre stimme wackelt kein bisschen, nicht das kleinste Fünkchen Wut oder Sorge ist herauszuhören. Einerseits bin ich erleichtert darüber, dass sie mir scheinbar tatsächlich verziehen hat, andererseits finde ich es bedenklich, wie wenig Gedanken sie sich um Jonas zu machen scheint.
„Glaubst du das eigentlich echt?", höhnt sie eine halbe Minute später von der Seite. „Was g- glaube ich?" „Na, dass ich dir verziehen habe." „Hast du das denn nicht?" In mir stolpern tausend Fragezeichen übereinander und eine dunkle Ahnung bohrt sich in Schneckentempo in mein Bewusstsein. Sie dreht sich zu mir um, ich sehe ihre Augen, gleichzeitig leer und Gift versprühend, ihre Lippen, die sich zu einer Fratze verziehen, ihr Körper, der fremdgesteuert wirkt. „So etwas verzeiht man nicht", sagt ein Roboter durch ihren Mund. Ihre Hände schnellen nach vorne, umschließen meinen Hals, perfekt manikürte babyrosa Fingernägel graben sich in meine Haut. Ich schnappe nach Luft, doch die wird mir von ihr verwehrt. Das einzige was ich schlucke ist ekelhaftes Salzwasser, weil mein Kopf schon halb unter Wasser ist. Unsere Augen treffen sich, meine verzweifelt und weit aufgerissen, ihre vor Wut brennend. Ihre Finger schließen sich noch fester um meine Kehle, bis es vor meinen Augen zu flimmern beginnt. Verdammt, sie tut es wirklich. Während mein Gehirn eine Millisekunde lang realisiert, was gerade passiert, verschwendet sie keine Zeit für Gedanken. Sie drückt mich unter Wasser und stellt sich auf meine Schultern, sodass ihr ganzes Gewicht auf mir lastet. Ich beginne wie wild zu strampeln, um mich zu schlagen, an ihren Beinen zu zerren, zu brüllen. Vor allem letzteres würde unter Wasser kein bisschen helfen, stelle ich schnell fest. Jetzt brennt nicht nur die Schuld in mir, sondern auch meine Lunge. Jede einzelne Zelle schreit nach Luft, Luft, Luft. Doch ich kann meinem Körper nicht mehr das geben, was er zum Überleben benötigt. Eigentlich habe ich den Kampf bereits über Wasser verloren, und den gegen die Schuld schon vor Monaten. Ein letztes Mal sammle ich alle meine Kräfte zusammen, versuche, ihre Füße von mir wegzureißen, doch gegen ihre unbändige Kraft und vor allem ihren Willen habe ich nicht die geringste Chance. Mein Kopf dröhnt, vor meinen Augen verschwimmt alles zu etwas undefinierbarem, ich nehme keine unterschiedlichen Bilder mehr wahr, nur noch ultramarinblaue Todesangst. Meine Gliedmaßen erschlaffen und fühlen sich an, als würden sie nicht mehr zu mir gehören, als hätte mein Körper sie bereits aufgegeben. Die rettende Wasseroberfläche scheint so unendlich weit weg, und mit jeder jahrelangen Sekunde, die verstreicht, wirkt mein Leben weniger erreichbar und mehr verloren. Der Auftrieb lässt mich im Stich, stattdessen wird mir von ihr und den tonnenschweren Wassermassen über mir der Weg an die Luft versperrt. Das Blei in meinem Herzen verlagert sich in meine Zehenspitzen und zieht mich in die Tiefe. Wie Olaf aus Frozen so schön sagt, Wasser hat ein Gedächtnis. Und anscheinend hat es sich gemerkt, was ich getan habe, um mich jetzt gebührend zu bestrafen. Es raunt mir zu, dass ich es verdiene, dass ich nicht mehr kämpfen darf. Das wars also. Nichts mit Zukunft, Studieren, Karriere, Kinder, Familie, erfülltes Leben, im Alter friedlich einschlafen. Nein, mir steht wohl eher ein Ertrinkungstod mit gerade mal 19 Jahren bevor. Wahrscheinlich sollten jetzt all die schönen Momente meines Lebens wie ein Film im Schnelldurchlauf an mir vorbeiziehen, ich sollte an meine Eltern denken und sowas. Doch vielleicht ist das nur bei guten Menschen so. Schlechte Menschen werden stattdessen mit ihrem größten Fehler nochmal konfrontiert, damit ihr letzter Gedanke auf Erden aus Reue besteht. Hinter meinen längst verschlossenen Augenlidern erscheint das Bild, dass ein halbes Jahr lang aus meinem Bewusstsein verbannt gewesen ist. Er und ich, auf dem dicksten Ast des großen Birnbaums. Er kitzelt mich, ich stoße ihn lachend von mir weg, er fällt in den daruntergelegenen Pool, taucht nicht mehr auf. Ich sehe sie im Fenster des zweiten Stockes, ihre Lippen bewegen sich lautlos, es sieht ein bisschen so aus wie „Er kann noch nicht schwimmen". Ich bleibe wie festgefroren sitzen, beobachte, wie sie scheinbar in Zeitlupe auf den Pool zu rennt, ihn herauszerrt, ihn anbrüllt, er solle verdammt noch mal atmen. Doch das kann er bis heute nicht, das müssen die Maschinen der Intensivstation vermutlich sein restliches Leben lang für ihn erledigen. Zwei Tage später treffe ich sie, ihr Mund behauptet „Ich verzeihe dir. Es war nicht deine Schuld", doch in ihren Augen steht „RACHE" in dunkelroten Großbuchstaben. Diese hat sie jetzt bekommen. Langsam entweichen auch die letzten Gedanken und Bilder und Worte aus mir und machen der schwarzen Leere, mit der ich eins werde, Platz.______
das titelbild ist aus dem musikvideo von "das leichteste der welt" und wurde bearbeitet von axinahx <3 danke nochmal dafür und generell für deine hilfe. schaut unbedingt mal auf ihrem profil vorbei, sie schreibt echt ziemlich toll :)
und auch noch mal danke an julia und julia fürs probelesen, ich hab grad nur keine ahnung wie ihr auf wattpad heißt, aber ihr wisst eh, dass ihr gemeint seid:)
gerade bei dieser geschichte würde ich mich sehr über feedback freuen, weil ich zumindest das gefühl habe, dass sie ein bisschen anders als sonst ist. deswegen: lasst mir eure kritik da:)
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wasser hat ein gedächtnis
Kurzgeschichtenanders als alles was ich bisher geschrieben habe, aber irgendwie auch nicht