1 Schmerz der Vergangenheit

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Jess:

Die letzten Wochen und Monate habe ich mich immer wieder auf diesen Moment vorbereitet. Dutzende Male habe ich mir eingeredet, es würde nicht so schlimm werden, sie würden uns verzeihen, sie würde mir verzeihen. Denke ich daran, was ich getan habe, wie ich sie hintergangen und belogen habe schnürt mir das Ziehen in meiner Brust die Luft ab. Es hätte andere Wege gegeben, doch wir haben ausgerechnet diesen gewählt. Und jetzt befürchte ich, holt uns unsere Entscheidung ein. Meine Gedanken schießen mir seit Stunden mit solch einer Geschwindigkeit und einschlagenden Wucht durch den Kopf, ich bemerkte nicht einmal, wie sich die Nacht dem Ende zuneigte, bis eine der Wachen bei mir im Zimmer stand, um mich abzuholen.

Hätten wir ihr von Anfang an gesagt, worum es geht, hätte sie uns zuerst zwar für verrückt erklärt, doch sie wäre mir nicht verloren gegangen. Der Gedanke an den Verlust dieser Freundschaft fühlt sich an wie ein Funke des Schmerzes, den ich verspüre, wenn ich an unser Tal zurückdenke. Mordende Bestien, zusammengeflickte, abartige Kreaturen ziehen erneut über die grünen Wiesen in meinem Kopf. Hinter sich die alles verschlingende, Tod bringende Ödnis, die sie mit sich bringen. Leichen, überall liegen Leichen. Ausgerissene Glieder, abgehackte Köpfe, zermanschte Körper. Meine Schwester, sie sie möchte fliehen, doch eines der Monster holt sie vom Himmel und zerreißt sie mühelos in zwei Hälften.

Eine Berührung lässt mich zusammenzucken. Tobi streicht mir über den Rücken. Er muss mein Unbehagen und die Panik, die mir jedes Mal, wie ins Gesicht geschrieben ist, bemerkt zu haben. Winzige Schweißperlen benetzen meine Stirn und meine Oberlippe. Schnell wische ich mir die Feuchtigkeit aus dem Gesicht, bevor es jemand sehen kann. Als ich mit dem Handrücken über meine Stirn streiche, fühle ich die Schäfte in meinem Haaransatz. Das passiert jedes Mal, wenn ich an diese schreckliche Zeit zurückdenke. Der Drang, zu fliehen, übermannt mich und wenn Tobi mich nicht wieder zurückholt, kann ich die Transformation nicht mehr stoppen.

„Atme tief ein und aus. Selbst ein Mensch könnte deine Angst wittern." Seine vertrauten braunen Augen sehen zu mir herunter. Sie haben die gleiche Farbe wie sein Fell.

Ohne Wiederrede befolge ich seine Anweisung. Er hat mir immer geholfen, wenn mich die Vergangenheit wieder einzuholen schien und genauso ist es noch jetzt. Die lauwarme Luft dringt durch meine Nase und meine Lungen und ich stoße sie leise wieder durch meinen Mund aus. Diese Übung wiederhole ich ein paar Male, bis ich mir sicher bin, meinen Körper wieder unter Kontrolle zu haben. „Danke, es wird schon gehen, denke ich."

Er nickt mir noch einmal zu, bevor er seinen Kopf wieder hebt und seine Augen nach vorne richtet.

Erneut fällt mir auf, wie angespannt er ist, wie das Tier unter seiner Haut sich zu befreien versucht. Ich habe es schon so lange nicht mehr gesehen, sein Fell. Im Gegensatz zu mir, hat er es doch deutlich schwerer. Erst seit wir wieder in unserer Heimatwelt sind, hat er die Möglichkeit, sich zu transformieren. Nach Jahren in der Stadt sollte das hier eine Erlösung sein, doch selbst hier hätte er nur unerwünschte Blicke auf uns gezogen, genauso wie ich. Bis hier her zu gelangen, war kein Spaziergang und diese Wesen denken offenbar, sie seien die alleinigen Bewohner unserer Welt. Sie kennen weder unsere Heimat, noch wissen sie von unserer Existenz. Eingenommen von ihren ständigen Kriegen, sind sie in ihrer egozentrischen Weltansicht so dermaßen eingeschränkt, dass sie es in all den Jahrtausenden nicht geschafft haben, über den Tellerrand hinaus zu sehen.

Immer wieder wirft Tobi mir besorgte Seitenblicke zu, während wir zügig über den bewachsenen Boden marschieren. Es ist erstaunlich, was die Feen sich hier erschaffen haben. Nie im Leben wäre unser spartanisch lebendes Volk auch nur auf die Idee gekommen, einen solchen Koloss von Verschwendung zu erbauen. Wir sind eins mit der Natur. Das ist unser Volk seit dem Beginn unserer Ära und so werden wir es bis zum Ende unserer Tage sein. Und das Ende rückt immer Näher. Wahrscheinlich sind wir die letzten. Wahrscheinlich wird unser Volk mit uns aussterben. Wir sind Heimatlos und allein.

Spiel im Schatten - Der schwarze KontinentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt