Kapitel 3: Krebs

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Ana Maria Aiza und ihre Tochter kamen nicht bis Paternáin, nicht bis Larraya und auch nicht bis Arraiza. Weder gingen sie am kommenden, noch an dem darauffolgenden Tag ihres Weges. Die beiden reisenden Seelen hatten ihre Weggefährten gefunden. Sie blieben bei der Familie.

Es war keine große Sache gewesen. Als es im Haus still geworden war, hatte das Ehepaar noch im Bett miteinander geflüstert. Die Mutter wurde von Tag zu Tag schwächer, schaffte kaum noch den Haushalt und den Kindern wollte sie ihn nicht komplett überlassen. Eine helfende Hand wurde gebraucht und zwei zusätzliche Menschen, wobei der eine noch ganz klein war, konnte man gewiss mit satt bekommen.

Ana Maria hatte das Angebot nicht abgelehnt. Auch sie war am Abend wach geblieben und hatte, auf der weichen Matratze liegend, in die Dunkelheit gestarrt. Sie hatte nachgedacht und zu träumen begonnen. Was wäre, wenn sie jeden Tag eine warme Mahlzeit und einen sicheren Schlafplatz hätten, der sie vor Regen, Wind und Kälte schützte? Was wäre, wenn Isabelle jeden Tag lachte?

Vielleicht", dachte sie in den kommenden Wochen und Monaten immer wieder, „gibt es Gott ja doch."

Sie putzte gut und kochte hervorragend. Was sie in ihrer nicht abgeschlossenen Ausbildung gelernt hatte, brachte sie dazu, vorzügliche Porrusalda, Chorizo a la Sidra oder Goxua zu zaubern. Während ihrer Arbeit sah sie immer wieder nach den Kindern, wenn sie der Mutter lauschten, die ein Buch vorlas, oder wenn sie wild durch das Haus oder auf der Straße tobten. Immer wieder sah sie dabei auch den dunklen Schopf ihrer kleinen Isabelle zwischen dem Meer aus blonden Haaren hervorblitzen. Das Kind war glücklich und so war es seine Mutter auch. Bei einer abenteuerlichen Erkundungstour durch das Haus, bei der es galt, den Geistern und Gestalten, die in den Ecken lauerten, aus dem Weg zu gehen oder sie zu besiegen, konnten die siebenjährige Barby und der vierjährige Paddy, den das Mädchen einfach nicht los wurde, obwohl er, so unbeholfen, wie er sich bewegte, eine Gefahr für die Expedition darstellte, die junge Frau in der Küche sogar einmal summen hören. Die Musik, die das ganze Haus zu jeder Zeit erfüllte, war also auch an ihr nicht abgeprallt und erleichterte ihr Herz.

Gleichzeitig wuchs in Ana Maria die Sorge um ihren Engel. Barbara-Ann wurde immer schwächer und die Therapie zehrte zusätzlich von ihren Kräften.

Und dann kam der Tag, an dem Ana Maria selbst krank wurde. Es begann mit Kopfschmerzen, Müdigkeit und Husten und endete in Fieber von 40°C.

Schließlich blieb ihr keine weitere Möglichkeit, als zum Arzt zu gehen, wenn sie gesund werden wollte – und das wollte sie. Immerhin hatte sie nun eine Aufgabe in dieser Familie. Es war der 30. September 1982, ein Donnerstag, an dem sie den Arzt aufsuchte, und an dem sie weinend wiederkehrte. Gegen ihre Erkrankung könne sie Medizin nehmen und in zehn Tagen wieder auf den Beinen sein. Doch da war noch etwas anderes und das machte ihr Angst. Es machte ihr mehr Angst als alles, was sie bisher erlebt hatte. Nicht die Schläge ihres Vaters und nicht das Wissen, allein auf der dunklen Straße zu sein, hatten bei ihr jemals solche Furcht hervorgerufen. Es war etwas Tiefgreifenderes, etwas, das wohl jedem jungen Menschen eigen ist: Die Angst vor dem eigenen Tod.

Sie wusste, was sich durch den Körper ihres Engels fraß und sie wusste, wie es ausgehen würde und sie fürchtete sich. Sie hatte Angst, dass der unerwünschte Untermieter, der sich auch in ihrem Körper eingenistet hatte, ihr das Leben rauben konnte. Das Geschwür konnte sie vernichten. Der Krebs konnte ihr Todesurteil sein. Doch was war dann? Was würde aus ihrer Tochter werden? Aus ihrer kleinen Isabelle?

Das Kind würde dasselbe Schicksal ereilen, das alle Kinder ohne Eltern ereilte: Entweder würde es auf der Straße zugrunde gehen – einer dieser kleinen Körper werden, die man in einem kalten Winter erfroren oder verhungert in einer Seitenstraße oder zu jeder anderen Jahreszeit ertrunken in einem Fluss fand – oder man würde es in ein Waisenhaus stecken, wo man es vergessen würde. Eines von Vielen.

Nein, das wollte sie nicht für ihre Tochter. Ihr Kind sollte leben und lachen und geliebt werden, so wie es hier lebte, lachte und geliebt wurde. Und sie wollte nicht sterben.

Was also sollte sie tun?

Ana Maria war eine Träumerin, aber in selbem Maße war sie auch Realistin. Die Straße hatte ihr gezeigt, wie nah arm und reich, Hunger und Stattsein und Leben und Tod beieinander wohnen konnten. Wer nicht krank sein wollte, musste Medizin nehmen um zu leben, auch wenn es den Körper ein bisschen tötete. Aber Medizin war teuer und sie besaß kein Geld.

Mit diesem Wissen wurde der folgende Monat zur reinsten Qual für die junge Frau. Ohne eine Behandlung würde sie sterben, genau so, wie ihr Engel sterben würde. Die Mutter hatte mit den Kindern bereits darüber gesprochen und die lieben Kleinen waren ganz tapfer dabei gewesen und hatten erst abends in ihren Bettchen zu weinen begonnen.

Es war der Wunsch der Sterbenden gewesen, ein Video gemeinsam mit ihrer Familie drehen zu lassen und dabei wild im Schnee herumzutollen und fröhlich zu sein. Und während genau dieser Zeit zeigte sich für Ana Maria ein Ausweg aus ihrer Misere. Und dieser Ausweg hieß Bundesrepublik Deutschland.

Ein Unternehmer aus dem Land, so sagte es ihr der Arzt, habe die Initiative ergriffen und würde für die Krebsbehandlung von Menschen mit geringem Einkommen in verschiedenen Ländern aufkommen. Auch den einen oder anderen Mediziner, der auf dem Fachgebiet sehr kompetent sei, würde man schicken, hieß es.

Es hätte die perfekte Lösung sein können. Ana Maria hatte fast schon die nötigen Unterlagen unterschrieben, als ihre Welt und alles, was sie in den letzten sechs Monaten ausgemacht hatte, zusammenbrach. Es war abzusehen gewesen, aber deshalb nicht weniger furchtbar. Der Engel erlag der Krankheit. Man beerdigte den Körper auf dem Friedhof in Belascoáin neben der Kirche Paroquia de la Asunción. Es wurde still im Haus. Nur hin und wieder hörte man das Weinen eines Kindes oder das Fluchen des Vaters, wenn er zu viel aus der Flasche mit der Medizin getrunken hatte, die seine Schmerzen lindern sollte. Seine Medizin brauchte ihm kein Arzt zu verschreiben. Der Alkohol war dafür bekannt, ein gängiges Hausmittel zu sein, das die Schmerzen betäubte, wenn auch er in gleichem Maße an anderer Stelle tiefe Wunden schlug.

Die Kinder waren damit alleine. Sie brauchten Ana Maria. Die junge Frau übernahm nun sämtliche Aufgaben im Haushalt und kümmerte sich bestmöglich um alle Kinder. In einem Moment, da niemand hinsah, tröstete sie den jungen Joey, der in Tränen ausgebrochen war, nachdem er vom noch nicht fertigen Mittagessen genascht hatte, und sie reichte in einer stillen Minute Kathy, der ältesten Schwester, ein Taschentuch.

Je mehr Zeit verstrich, desto mehr übernahm jene Aufgaben, die die Mutter erledigt hatte. Ana Maria ließ die nur etwas Jüngere gerne gewähren. Wenn es ihr half, den Tod ihrer Mutter besser zu ertragen, war es ihr nur recht, wenn Kathy ihr im Haushalt und mit den Kindern half.

Es wurde Weihnachten und Neujahr und schließlich fasste man einen Entschluss: Die Familie würde weiterreisen.

Ana Maria stellte das vor eine furchtbare Entscheidung, die sie in der Nacht nicht schlafen ließ, und die doch schnell getroffen werden musste. In einem Moment, der ihr geeignet schien, sprach sie darüber mit dem Familienvater, fuhr an einem der folgenden Tage mit einem der Nachbarn nach Pamplona und erledigte dort Behördengänge, führte Gespräche und unterschrieb Papiere.


Es war ein kühler Tag im Januar, die Sonne strahlte an einem klaren blauen Himmel, als die junge Frau ihrer Tochter nach einer langen Umarmung einen dicken Kuss auf die Stirn drückte. Tränen standen in ihren Augen, die sie nicht fortwischte.

Dann stieg das Kind in den Wagen und der Wagen fuhr davon.

Kelly lifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt