02. Kapitel

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dum spiro, spero

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dum spiro, spero
. . . Solange ich atme, hoffe ich . . .

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Ihr Haar war kürzer. Nicht so viel kürzer, trotzdem sah es anders aus. Früher sind ihr ihre Haare bis über die Brust gegangen, heute gingen sie ihr nur knapp bis zur Schulter, erinnerten mich daran, dass ein Jahr und somit ein halbes Leben vergangen war. Und sie waren wieder blond. Ich hatte die helle Farbe ihrer Haare an ihr geliebt – genauso wie sie. Doch für ihre Rolle als schwarzen Schwan hatte sie sie sich schwarz gefärbt.

Schon zu dem Zeitpunkt war ich stutzig geworden, doch ich hatte die Warnsignale als unwichtig abgetan und Averys Worten Glauben geschenkt. Ich hatte ihr geglaubt, als sie versprach, dass es alles nur für eine Rolle wäre, dass es nicht von Dauer sein würde.

Versprechen waren die süßesten Lügen.

Und die bitterste Versuchung.

Ihre Lügen waren für mich wie die Pillen für einen Schwerkranken. Ich war auf sie angewiesen, habe sie in zu hohen Dosierungen eingenommen, als dass sie mir noch zur Rettung verhelfen konnten. Und irgendwann waren diese Pillen so teuer geworden, dass ich sie nicht mehr bezahlen konnte, ohne mein Konto zu überziehen.

Avery hatte mir versichert, dass es sich mit dem Tanzen wie in der Schauspielerei verhielt: Sie müsse sich voll und ganz auf die Rolle einlassen, ihre Rolle mit sich selbst verschmelzen lassen, um einen authentischen, hingebungsvollen Auftritt hinzulegen. Sie müsse sich selbst verlieren, um sich in der Rolle wiederzufinden.

Ich hatte ihr geglaubt.

Ich habe mich immer für einen empathischen Mensch gehalten, dachte, ich könnte Avery verstehen und mich in sie hineinversetzen. Schon damals wusste ich, dass ich mir nur selbst etwas vormachte, doch ich wollte es nicht einsehen. Ich konnte sie nicht retten, nicht vor sich selbst. Ich konnte diese Distanz zwischen uns nicht mehr überbrücken.

Jetzt, ein Jahr später, wusste ich, dass ich Avery nie wirklich verstanden hatte. Klar, ich habe sie geliebt, aber viel zu oft reichte Liebe nicht aus. Liebe war vieles, aber im echten Leben war sie nicht alles. Es gab keinen Abspann am Ende einer Beziehung, der dem Zuschauer signalisierte, dass nach dem Happy End auch alles weitere gut gehen würde. So funktionierte die Realität nicht, so funktionierten wir nicht. Viel zu oft waren wir zu sehr damit beschäftigt, verstanden zu werden, anstatt selber zu verstehen.

Und das Tanzen war eine Sache, die ich nie wirklich verstanden hatte. Es war ein Teil von ihr, zu dem ich nie Zugang bekommen würde, den ich nie vollends ergründen könnte. Ich konnte ihre Dämonen nicht besänftigen, wenn sie es waren, die mich verdrängten.

Dass sie jetzt hier war, am Haddon Hall College in der Kleinstadt Bakewell, hätte ich zu gerne als ein Geschenk des Himmels betrachtet. Denn mal ehrlich; wie wahrscheinlich war es, dass ausgerechnet unsere Wege sich wieder treffen würden?

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