Story

1 0 0
                                    


In tiefster Nacht machte sich langsam die Einsamkeit in Whisper breit. Wie von einem schlechten Albtraum geweckt fuhr er aus dem Bett und blickte sich müde blinzelnd um. Alles war wie zuvor: seine Verlobte lag immer noch neben ihm im Bett, die letzten Kerzen brannten noch langsam ihr Wachs hinab und der Mond strahlte hoch am Himmelszelt durch das Fenster des Tavernenzimmers und flutete den Raum mit seinem Glanz.

Langsam setzte er sich auf und streifte sich die ledernen Stiefel über die Füße, ehe er sich so leise erhob, als sei er gerade auf der Jagd nach einem scheuen Rehkitzlein. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen bis er die Türklinke sachte umgriff und die knarzende Türe langsam aufzog, um dahinter in der Taverne zu verschwinden. Auch in der Taverne schien trotz des gefeierten Festes schon Ruhe eingekehrt zu sein. Keine Seele war mehr zu finden, mit der Ausnahme der wenigen Trunkenbolde, die sich dazu entschlossen, ihre Nacht samt Gesöff auf ihrem trauten Tisch zu verbringen.

Mit dem Fuß die am Boden liegenden Flaschen schlichtweg zur Seite schiebend, trat er flink zur Türe hinaus auf die Straßen, um den beißenden Geruch von schlechtem Alkohol und Erbrochenem aus der Nase zu bekommen. Sowie die Türe hinter ihm wieder ins Schloss fiel, streckte er sich und atmete tief durch, um die kalte Luft der Herbstnacht in die Tiefen seiner Lungen hinab zu ziehen. Einige Momente lang so verharrend schweifte sein Blick durch die festlich geschmückten Straßen und die Reste von Konfetti, Flaschen und wenigen Kleidungsstücken, die die Straßen unter sich pflasterten.

All den Mut in sich gesammelt und mit frischer Luft in den Lungen schritt er langsam durch die immer breiter werdenden Gassen, bis sie schlussendlich auf einer großen Straße mündeten. Immer schneller schritt er voran zum Tor, an jenem sich die Wachen tief vor Whisper verbeugten. Er quittierte es lediglich mit Ignoranz und schritt immer schneller davon, bis sich der dunkle Nadelwald wie ein Mantel um ihn legte. Seine schnellen Schritte wurden, je tiefer er in den Wald hinein ging, langsamer und vorsichtiger, bis es in einem Schlendern mündete, welches gar an einen entspannten Spaziergang erinnerte. Hätte man Whisper in den Momenten betrachtet, hätte man ganz und gar nicht vermutet, welcher Kampf gerade in seinem Inneren loderte.

Er schlenderte schlichtweg den kleinen Trampelpfad durch den Wald hindurch auf eine kleine Lichtung, welche ganz und gar von einem dichten Nebel eingehüllt wurde. Nur schwer konnte man durch den Schleier die Grabsteine erkennen, die die Lichtung vollkommen für sich behaupteten, wobei Whisper dennoch zielstrebig die Lichtung durchstapfte, bis er auf einen kleinen Hügel gelangte, welcher nur zwei einzelne Grabsteine beherbergte. Mit jedem Schritt, welchen er den Hügel hinauf trat, wurden seine Knie immer weicher, bis er vor den Gräbern auf seine Knie sackte. Vereinzelte Tränen bahnten sich bereits jetzt ihren Weg über seine Wangen hinab, während er sich nach vorne fallen ließ und die Hände tief in der Erde vergrub. Eine ganze Weile erfüllte nur das leise Schluchzen des Katzelfen die Grabstätte.

Der Mond wich schon den ersten Strahlen der Morgenröte am Horizont, während das einst leise Schluchzen inzwischen schon in qualvolle Schreie eines jungen Mannes mündeten. Immer wieder drang das beinahe schon hasserfüllte „Warum?!" durch den Wald hindurch, bis es sich in der Luft verlief, ohne je Gehör gefunden zu haben. All der Hass, der sich über all die Jahre in ihm anstaute, entwich an jenem Morgen seinem tiefsten Inneren durch all die qualvollen Schreie.

Doch plötzlich war es so still auf der Lichtung, als sei keine Seele mehr hier, die die schon fast unheimliche Ruhe des Friedhofes noch stören könne. Whispers Ohren stellten sich auf und zuckten zielgerichtet in eine Richtung, als würde er einem Geräusch lauschen, doch da war nichts. Kein Wort, kein Knacksen eines Astes und auch nicht das Hauchen des Windes.

Erst, als seine Ohren wie von Enttäuschung getrieben sich wieder entspannten, sank das von Tränen geprägte Haupt auf die Erde des Grabes hinab und verweilte auch so eine ganze Weile lang. Das Bild erinnerte beinahe an jemanden, der am Grabe seiner Schwester um Vergebung flehe oder beten würde, doch war dem keineswegs so. Er wollte nur all den Kummer los werden und seine Schwester zurück, um mit ihr über alles zu sprechen, was sich seit ihrem Tode ereignet hatte und dem Katzelfen schwer auf dem Herzen lastete.

Die ersten Sonnenstrahlen suchten sich bereits ihren Weg durch die Nadelbäume auf die Lichtung als er seinen Kopf wieder anhob, um in all seiner Trauer das Grab zu betrachten, nur um festzustellen, dass die Erde noch frisch aufgewühlt war, als habe erst gestern jemand das Grab ausgehoben. Auch jetzt erst entdeckte er im Augenwinkel die Schaufel, die unweit vom Grab seiner Schwester in der Erde thronte.

Nun war es vollends um ihn geschehen und er wollte wissen, ob die Ruhe seiner Schwester gestört worden war. Doch viel mehr als die Ruhe selbst zu stören tat er nicht, denn er rappelte sich auf, um die Schaufel zu ergreifen und Fuhr für Fuhr die Erde vom Sarg hinunterzuschaufeln und somit die Reste des hölzernen Sarges freizulegen. Sobald sich sein Blick auf das Holz heftete, ließ er die Schaufel fallen und beugte sich hinab, um mit aller Vorsicht den Sarg zu öffnen. Was er vorfand, war schrecklicher als alles, was Whisper sich erdachte, ehe er aus dem Bett stieg. Tief in seinem Inneren bohrte sich eine Klinge so tief in sein Herz hinein, dass es sich für ihn so anfühlte, als sei es gerade in all seine Einzelteile zerbrochen. Mit zitternden Händen und den Tränen, die sich bereits wieder in seinen Augen sammelten, blickte er hinab in den Sarg und den einsamen Schädel, der einst auf dem Körper seiner Schwester saß.

Markerschütternd hallte die krächzende, grelle Stimme, welche nicht mehr als ein simples „Nein" einfangen konnte, durch den Wald und schreckte jegliche Vögel auf, welche sich augenblicklich in alle Richtungen verabschiedeten. Wie wild schüttelte er seinen Kopf von Seite zu Seite, sich selbst einredend, es sei nicht mehr als ein grauenvoller Albtraum, der ihn nicht frei geben wollte.

Erst als er sich selbst mit voller Wucht die geballte Faust in den Magen rammte und der Schmerz durch jeglichen Nervenstrang tobte, wurde den zitternden Augen und dem schwindenden Verstand klar, was sich ihm offenbarte. Jemand hatte während der Festivitäten das Grab ausgehoben und alles von seiner Schwester an sich gerissen, bis nur noch der einsame Schädel im Sarg zurückblieb. Die zitternden Hände, die man sonst nur bei jenen Wesen sieht, die um ihr Leben fürchten, wanderten hinab in den Sarg, um den Schädel vorsichtig hinauszuheben.

Als würde er seine Hand durch das Haar eines jungen Mädchens streichen, strich er über die Schädeldecke der Reste seiner Schwester und ließ all die salzigen Tränen auf die Knochen hinabfallen. „Was haben sie dir nur angetan..?", brachte er mit gebrochen-schwacher Stimme hervor „Du warst eine Heldin..". Auf seinen Knien ruhend umschloss er langsam den Schädel so sachte, als würde ein junges Mädchen ihren Kuschelbären umarmen, während sie ihren verdienten Schlaf sucht.

Abwesend und wie von selbst erhob er sich wieder vom Erdloch, welches einst seiner Schwester ihren ewigen Frieden schenken sollte und wandte sich, von Tränen übermannt, zum Gehen mit dem Gefühl tief in seinem Herzen einst mit allen glücklich gewesen zu sein, bis die Sense geschwungen wurde und die Stränge der Seelen von der Kutte geerntet und ins Reich des Vergessens gezerrt wurden. Tief in sich wusste er, dass all die Schuld nur an ihm lastete und auch immer dort ihren Ursprung nehmen würde. Sich selbst sicher seiend, stets alleine gelassen zu werden, wird immer er der Schuldige daran sein und nie dazu fähig werden jemand anderem als sich selbst die Schuld in die Jackentasche zu stecken... 

Das Herz so leer, wie des Grabes TiefeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt