Mein Herz. Es pochte laut in meiner Brust, dass ich Angst bekam der Unbekannte könnte es hören. Wer ist dieser Typ? Ein Einbrecher? Ein Penner? Reflexartig wollte ich schnellstmöglich verschwinden ohne von ihm gesehen zu werden. Doch dafür war es schon zu spät. „Ey, Spannerin, wer bist du?", rief er mir zu. Er musste so laut sprechen, da das Wasser immer noch durch den Duschkopf rauschte. Mit diesem Satz erweckte er das Feuer in mir. „Ich bin keine Spannerin!", rief ich ihm entgegen. „Du bist ja wohl der Fremde hier!" Der Typ lachte. Es schien ihm scheinbar gar nichts auszumachen, dass er nackt nur einige Meter vor mir stand. „Ehm, ich wohne hier.", sagte er. „Wie? Du wohnst hier? Jonas wohnt hier.", sagte ich begriffsstutzig. Wieder lachte der Typ. Sein Lachen klang tief und schaffte es mir eine Gänsehaut zu machen. „Ja, ich wohne mit Jonas hier. Ich bin Milan.", stellte er sich vor. „Ach so." Langsam wurde mir die Situation unangenehm. Ich schloss ohne ein weiteres Wort zu verlieren die Tür.
Ich zog mich an und schminkte mich ein bisschen. Damm setzte ich mich zu Loretta und Jonas an den Frühstückstisch. Jonas hatte Brötchen geholt, die ich mit niederländischen Zuckerstreuseln aß. „Was ist euer Plan für heute?", fragte ich die beiden. „Ich muss heute arbeiten. Aber am Abend gehen Loretta und ich in eine nice Bar hier in der Nähe. Kannst gerne mitkommen, wenn du möchtest.", bot Jonas mir an. „Das ist nett, aber ich denke ich werde mich heute mal auf die Suche nach einem Nebenjob machen. Bis jetzt gefällt es mir eigentlich ganz gut hier und ich kann mir gut vorstellen ein paar Wochen hier zu bleiben.", erzählte ich. „Im Café von meiner Tante suchen die händeringend Unterstützung.", hörte ich eine mir bekannte Stimme von hinten sagen. Der Typ aus dem Badezimmer, Milan, kam in die Küche. „Ach, das ist übrigens Milan, Dalia. Milan, das hier ist Dalia.", machte Loretta uns bekannt. „Ja, wir hatten heute Morgen schon das Vergnügen.", sagte Milan und warf mir einen koketten Blick zu. „Dalia also. Ich hab heute frei. Wenn du willst, kann ich dich meiner Tante vorstellen. Ich wollte später eh nochmal in ihrem Café vorbeischauen. Die haben einfach die besten Zimtschnecken in ganz Amsterdam.", schwärmte Milan. Erst jetzt viel mir auf, wie eisblau seine Augen sind. Ein hübscher Kontrast zu seinen braunen Locken. Allgemein befiehl er mir optisch gut. Naja, aber solche Typen haben ja leider meistens schon eine Freundin. Und wenn ich ihn fragen würde, denkt er direkt, ich hätte Interesse.
Als ich gemeinsam mit Milan eine halbe Stunde später das Café seiner Tante betrat, stieg mir direkt der Duft frisch gebackener Zuckerschnecken in die Nase. Wie der Name „Zuckerschnute" schon sagte, gab es an der großen Theke eine große Auswahl an Süden Gebäck. Hinter der Theke stand eine junge Frau. Ich würde sie auf dreißig schätze. „Hey Milan! Lässt du dich auch mal wieder blicken?", rief sie, als sie von der Kasse aufblickte. „Hey Sina. Dalia hier", er deutete auf mich, „sucht gerade nen Job." „Das trifft sich prima. Ich suche gerade noch Leute. Der Andrang hier steigt zum Sommer immer, wenn es mehr Touris nach Amsterdam führt.", erklärte Sina. „Hast du schon Erfahrung in der Gastronomie und im Service?", fragte sie. Mich überkam kurz die Unsicherheit. Ich habe schließlich noch keinerlei Erfahrung oder so, was mich für diesen Job prädestinieren würde. „Ne, ehrlich gesagt nicht.", gab ich offen zu. „Okay, kein Problem. Wir arbeiten doch schon ein.", sagte Sina. „Wann kannst du anfangen?" „So früh, wie ihr Hilfe braucht", antworte ich. „Sagen wir morgen früh um elf? Wir öffnen immer gegen zwölf und dann kann ich dir vorher nochmal das Lager, die Kasse und so zeigen.", schlug Milans Tante vor. „Klingt gut, ich freue mich.", sagte ich. „Können wir noch zwei Zimtschnecken haben, liebste Tante?", fragte Milan. Dazu klimperte er viel zu übertrieben mit seinen Wimpern. „Ja klar."
Jeder mit einer Zimtschnecken in der einen Hand und einem Kaffee in der anderen verließen wir die „Zuckerschnute". „Wollen wir uns ans Wasser setzen?", fragt Milan. „Gern." Die kleinen Kanäle, die überall durch die Stadt fließen geben Amsterdam seinen ganz eigenen Touch. Nachdem wir ein paar Mal um die Ecke gegangen und ein paar Straßen überquert haben kommen, bleiben wir vor einer Bank stehen. Sie ist direkt an einem Kanal gelegen. Wir setzten uns und aßen stillschweigend unser Gebäck. Währenddessen beobachteten wir ein paar Enten an uns vorbei schwimmen. Eine kleine Entenfamilie oder besser gesagt eine Mutter mit ihren drei Kindern schwamm nur wenige Meter vor uns an uns vorbei. Die Mutter schaute sich immer wieder nach ihrem Nachwuchs um. Plötzlich verhedderte sich einer der Entchen in einem Ast. Seine Mama sah es direkt und kam ihm schnell zur Hilfe. Sie rettete ihn und gemeinsam schwamm die Entenfamilie davon. So sollte es sein, dachte ich. Das ist, was mir fehlt. Meine Mutter war immer viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, als das sie mir hätte viel Aufmerksamkeit schenken können. Mir fehlte in meiner Kindheit die Person, der ich nacheifern konnte. Ein Vorbild. Jemand zu dem ich aufschauen konnte. Jemand der mich bedingungslos umsorgt und liebt. Jemand auf den ich bauen konnte.
Ich kam wieder zurück in die reale Welt. Milan hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Mittlerweile hatten wir beide unsere Zimtschnecken verspeist. „Danke nochmal für die Zimtschecke und den Job. Und natürlich dafür, dass ich bei euch wohnen darf.", brach ich das Schweigen. „Kein Ding", antwortete er gelassen. „Musst du eigentlich nicht arbeiten?", fragte ich interessiert. Es war schließlich Montag und auch Jonas war heute bei der Arbeit. Milan lachte kurz auf. „Ne, ich kann mir meine Arbeit ziemlich frei einteilen. Ich arbeite einfach dann, wann ich Lust habe.", erklärte er. „Wow, klingt ja nach nem ziemlichen Traumjob.", sagte ich. Wieder lachte Milan auf. „Was machst du denn genau?" „Ich bin ein Callboy, Stripper oder männliche Nutte. Nenn es wie du willst.", antwortete er. Ich war baff. Mit diesem Job hätte ich bei Milan nun wirklich nicht gerechnet. Klar, er sah gut aus, war groß und breit gebaut, aber trotzdem. Ich wusste nicht ganz wie ich reagieren sollte. Ich entschied mich statt für eine überraschte Antwort mehr für die gelassenere. „Okay, cool.", antwortete ich. „Ich kann dir deine Überraschung im Gesicht ansehen.", teilte Milan mir belustigt mit. „Ja, ich hab in meinem Leben bis jetzt tatsächlich noch niemanden getroffen der sowas macht. Oder zumindest noch niemanden, der es einfach so raushaut.", gab ich zu. „Ach, hier in der Großstadt sind alle ziemlich locker mit sowas. Sexualität ist doch was menschliches.", sagte Milan. Ich nickte.
„Was kann man hier denn so abends machen?", wechselte ich spontan das Thema. „Naja, also was ich abends so mache müsste dir ja jetzt klar sein. Wo du meinen Beruf kennst.", sagte er lachend. Ich errötete leicht. Darüber hab ich nicht nachgedacht, als ich die Frage gestellt hab. „Ich schätze du meinst, was man als nicht Callboy machen kann." „Jap" „Also wir haben hier einige coole Clubs und nette Restaurants. Wenn du willst kann ich dir mal welche zeigen.", schlug er vor. „Voll gerne.", sagte ich. „Mittwoch Abend machen Jonas und ich meistens unseren WG Abend. Dann gehen wir meistens gemeinsam in ein Club oder ne neue Bar oder so.", erklärte er. Das klang voll cool. „Cool. Bleibt mir immernoch die Frage, was ich heute Abend machen soll.", überlegte ich laut. „Frag doch mal Loretta. Ich hab heute Abend arbeitstechnisch schon was vor, aber vielleicht geht sie mit ihren Freundeninnen weg.", schlug er vor. Ja, das klang gut. So langsam bekam ich Mittagshunger. „Was essen wir heute eigentlich zu Mittag?", fragte ich frei raus. „Wir könnten was vom Chinesen holen. Soweit ich weiß wollte Jonas später kochen, aber der ist gerade noch auf der Arbeit." „So machen wir's."
Am Abend lag ich alleine im gemütlichen Gästebett. Das Essen vom Chinesen war sehr lecker gewesen. Jonas hatte abends für alle Lasagne gekocht, nach Spaghetti Carbonara mein absolutes Lieblingsessen. Ich hatte Loretta noch gefragt, was sie abends macht, aber sie hatte mir erzählt, dass sie mit Jonas in ne Bar geht und da wollte ich nicht stören, obwohl sie mehrfach betont hatte ich könne gerne mitkommen. Mit Rafael hatte ich gerade kurz geschrieben, aber der war noch bei nem Freund und hatte keine Zeit zum telefonieren. Ich surfte kurz im Internet. Dabei wurde mir eine App angezeigt. „Wolke 7". Ich las die Beschreibung dazu. „Wolke 7- Die App für alle Menschen, die auch noch auf der Suche nach ihrem Schatzi sind." Eine Datingapp also. Eine Freundin von mir, Lisa, hatte mir mal davon berichtet, wie sie über ne App nen richtig schrägen Typen kennen gelernt hatte. Erst wirkte er total nett und am Ende wollte er doch nur Nudes. Trotz meiner Vorurteile machte die App mich neugierig. Ich lud sie mir runter und erstellte mir einen eigenen Account. Als Profilbild nahm ich ein Bild von mir am Strand, wo ich sympathisch lächele. Ich fing an, die Männer durch zu swipen. Binnen weniger Minuten hatte ich mein erstes Match. Der Typ hatte mir auch direkt schon geschrieben. Ich öffnete die Nachricht. Ich hörte es ganz laut pochen. Mein Herz.
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Wer perfekt ist, braucht Hilfe!
Teen FictionDalia. Ein Mädchen aus reichem Hause, das tief im Inneren die Welt entdecken möchte. Sie macht sich alleine auf eine Reise, bei der sie sich selber aber auch den Sinn des Lebens ganz neu entdeckt. Sie hinterfragt Perfektionismus und Normalität und e...