Kapitel 1 ✔️

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Die sechsjährige Skylar hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Ihr brauner Zopf wirbelte dabei durch die Luft wie eine geflochtene Peitsche. „Wo bleibt Ihr denn?", rief sie ihren beiden Geschwistern zu.

Der neun Jahre ältere Damon schüttelte amüsiert den Kopf. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Seine andere Schwester, Emma, trank den letzten Schluck Kakao, bevor sie angewidert den kleinen Wirbelwind betrachtete.

„Du solltest langsam wissen, dass nicht alle sofort springen müssen, wenn du etwas willst", wies sie die Jüngste der Familie zurecht. Wieso hatten sie die Aufgabe erhalten, auf den kleinen Teufel aufzupassen? Ausgerechnet an Heiligabend!

Die Eltern waren urplötzlich mitten in der vergangenen Nacht zur Firma gefahren. Zum Hauptsitz der Weyland Corporation in England. Emma und Damon nannten die Bosse heimlich Sklaventreiber, denn die Familien der Mitarbeiter waren denen egal. Nur die Forschung war wichtig. Daher hasste das Mädchen die Firma.

„Warum sind wir nur aus dem sonnigen Kalifornien ins nasskalte England gezogen?", murrte sie mit einem mürrischen Blick nach draußen. Seit einigen Monaten wohnten sie in einer viktorianischen Villa am Waldrand, trotz der Nähe zu London ohne jegliche Nachbarn. Neue Freundschaften zu schließen war schwierig. Dafür lebten sie zu weit von der Schule und damit von den Mitschülern entfernt. „Spätestens wenn ich achtzehn bin, ziehe ich zurück in die Staaten, nach Kalifornien. Dort scheint wenigstens die Sonne, im Gegensatz zu hier", fuhr sie mit ihrer Tirade fort. Sie verachtete Kälte und den Regen, der für England so typisch war wie die braungebrannten Surfer für ihre Heimat.

„Hör auf zu träumen, Emma. Das sind sechs Jahre bis dahin. Hilf mir lieber. Wir haben Sky versprochen, dass wir draußen mit ihr den Baum schmücken." Damon zerrte seine unwillige Schwester hinter sich her zur Garderobe.

Murrend zog sie ihre Winterstiefel und die dicke Jacke an. Der Parka war olivgrün, gefüttert und abstoßend in Emmas Augen. Geeignet, um ohne aufzufallen, im Wald herumzuspazieren. Warum bevorzugten ihre Eltern praktische Kleidung, die so unansehnlich war? Sie seufzte leise.

Markenkleidung war verpönt im Hause Bradford, daher gab es sie nicht für die Kinder. Dabei verfügten sowohl der Vater als auch die Mutter über ein ansehnliches Gehalt, um ihren Sprösslingen jeglichen Wunsch von den Augen abzulesen. Nur schien es nicht in ihrem Interesse zu liegen. Sämtliche Hobbys, die für eine erfolgreiche Karriere nicht von Belang waren, unterbanden sie ebenfalls. Im Gegenzug bereiteten sie die beiden Großen auf ihr späteres Leben vor. Für den Dienst bei Weyland. Ob die Geschwister dazu überhaupt Lust hatten, wurden sie nicht gefragt, stellte das Mädchen verbittert fest, schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.

Statt Hobbys nachzugehen und Freunde zu treffen, bekamen Damon und Emma dreimal in der Woche Unterricht in Selbstverteidigung und Waffengebrauch. Der Lehrer war ein britischer Veteran, der seit seiner Entlassung aus dem aktiven Dienst für Weyland arbeitete. Gern erzählte er den Kindern Geschichten aus seiner Zeit in der Armee. Wie ihr Opa hatte er an gefährlichen Missionen in entfernten Ländern teilgenommen.

Die Kinder hatten ihn nie kennengelernt. Er verschwand zusammen mit allen anderen Expeditionsteilnehmern bei der Erkundung einer Pyramide im Dschungel von Peru. Niemand hatte seitdem von ihnen gehört. Die Eltern klangen verstört, als sie die Geschichte erzählten. Emma schüttelte sich bei dem Gedanken daran. Vor allem ihr Vater verheimlichte etwas.

Er und die Mutter waren die vierte Generation der Familie, die für die Firma arbeitete. Sie und Damon waren die Nächsten, die an die Reihe kamen. Seit Jahren lernten sie dafür zuhause Biochemie und Technik. In Mathematik waren sie den Mitschülern Lichtjahre voraus. Das galt ebenso für Informatik. Wieso schickten die Eltern sie zur Schule, obwohl sie so viel weiter als ihre Altersgenossen waren? Das ergab keinen Sinn. Noch weniger, dass Skylar absolute Narrenfreiheit genoss. Keine extra Fächer, verhätschelt und beschirmt wie ein Schatz. Etwas, das Emma ihrer kleinen Schwester nicht gönnte. Warum wuchs Sky im Gegensatz zu ihnen so behütet auf? Grummelnd folgte sie der verwöhnten Göre nach draußen, die hüpfend den frischen Pulverschnee aufwirbelte. Über Nacht waren fünfzehn Zentimeter Neuschnee gefallen. Zu den zwanzig vom Vortag. Für englische Verhältnisse war das eine Menge. Der Schnee knirschte unter den Stiefeln. Die Luft war frisch und klar.

Ein ungebetener GastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt