Kapitel 10

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Ich starre das Telefon wie betäubt an. Boston. Ich meine BOSTON! Egal wie spontan diese Entscheidung getroffen wurde, ein persönliches Gespräch wäre doch sicherlich drin gewesen, oder?

Hin und wieder gibt mein PC Töne über eingehende Mails von sich. Ein, zweimal. Vielleicht auch zehnmal. Mein Handy habe ich mittlerweile wütend in die unterste Schreibtischschublade verbannt. Ich habe sie sogar abgeschlossen und mit dem Gedanken gespielt, den Schlüssel einfach aus dem Fenster zu werfen, so viel Ärger wie mir das Ding heute schon beschert hat.

Hatte Jake recht?
Hatten May und Matty recht?
War ich zu naiv, als ich geglaubt habe, das mit Travis und mir könnte wieder funktionieren?

So viele Fragen, und das an einem Montag. Montags ist sowieso immer alles doppelt so schlimm - einfach weil es eben Montag ist.

Dieser Meinung scheine übrigens nicht nur ich zu sein, denn gegenüber unseres Büros schlägt gerade die Tür mit einem lauten Rumms ins Schloss. Ich glaube die Vibration des Glases im Rahmen erschüttert das gesamte Stockwerk. Da ist mit jemandem überhaupt nicht gut Kirschen essen, und mein loses Mundwerk ist Schuld daran. Hoffentlich laufe ich Nathan heute nicht mehr über den Weg.

Etwa eine halbe Stunde später kommt May zurück. »Ist es komisch wenn eine Frau einen Mann um ein Date bittet?«, fragt sie kurz nachdem sie neben mir Platz genommen hat.

Oh Mann, nicht das schon wieder. Ich zwinge mich zu einem ermutigendem Lächeln. »So ein Quatsch. Selbst ist die Frau. Aber vielleicht ist heute kein guter Tag dafür. Nathan ist nicht besonders gut drauf.«

»Pssst! Nicht so laut!« Sie schnellt vor und presst ihre Hand fest auf meinen Mund. »Hamilton Publishing ist da, wo die Wände dünn, und die Kollegen neugierig sind! Wenn hier jemand mitbekommt, dass ich es auf einen gewissen Mann abgesehen habe, bin ich in einer Woche verlobt und in zwei Wochen schwanger. Und zwar im dritten Monat! Bethany Mitchell aus der Buchhaltung ist schlimmer als Gossip Girl!«

Lachend winde ich mich aus ihrem Griff. Sie schaut mich aus großen blauen Augen an.

»Du hast noch nie Gossip Girl gesehen, May«, erinnere ich meine beste Freundin.

»Ich bitte dich, Lex, der NAME sagt doch schon alles.« Sie macht eine abfällige Handbewegung.

Grinsend kümmere ich mich wieder um meine Arbeit. Ich überlege mir sogar schon Inhalte für den nächsten Blogartikel, selbst wenn ich dafür noch ausreichend Zeit habe. Die Pausen verbringe ich allein in meinem Büro, um Nathan nicht versehentlich unter die Augen zu treten. May fragte zwar, ob ich mit ihr, Matt und Nate mittagessen gehen wollte, aber ich habe höflich abgelehnt.

Die restliche Zeit bis zum Feierabend zieht sie wie Kaugummi. Immer wieder schleicht sich die Frage in meinen Kopf, warum Travis so überstürzt ins Geschäft seines Vaters einsteigen will. Wenn mich nicht alles täuscht, hatte John bei unserem tollen Abendessen damit angegeben, dass sein Unternehmen am Aktienmarkt recht gut dasteht. Dann scheint es doch zu laufen, oder? Wozu braucht er dann von heute auf morgen Travis' Hilfe?

Vielleicht hat Williams Industries ja so viel Erfolg, dass John Travis als Junior-Boss in internationale Geschäfte einplanen will. Und ehe ich mich versehe, führt er in Frankreich die hochnäsigen Töchter von noch hochnäsigeren Partnern zu 'Geschäftsessen' an der Côte d'Azur aus. (Okay, vielleicht ist das etwas weit gegriffen, aber woher soll ich schon wissen, dass es nicht wirklich so kommen wird?)

Um Punkt sechzehn Uhr schnappe ich mir Mantel und Tasche, und mache mich auf zu meinem Freund. Blut rauscht in meinen Ohren, während ich mir das Gespräch mit ihm ausmale. Was, wenn er sagt, dass er mich doch nicht mehr liebt und mich deswegen verlässt. Was, wenn er am Telefon einfach nicht damit rausrücken wollte? Mir wird ganz anders. Was soll ich denn dann machen? Aber ich muss ihn zur Rede stellen. Seiner Freundin über einen Anruf mitzuteilen, dass man für Wochen die Stadt verlässt, entspricht schließlich auch nicht der feinen englischen Art.

When our time comesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt