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»Miss Walsh, ich bin Dr. Lincoln Bailey, der angeforderte Psychologe. Darf ich eintreten?«

Es war eigenartig. Obwohl sie diesen Mann zum ersten Mal sah, war er ihr unsympathisch. Vielleicht lag es an seinem Vornamen. Lincoln ... sie mochte Vornamen, die ebenso gut ein Nachname sein könnten nicht. Dennoch richtete sie sich mühevoll in ihrem Krankenbett auf und nickte. Der Schmerz, der dabei durch ihren Brustkorb zog, erinnerte sie an die gebrochenen Rippen. Ein kleiner Preis für ihre Freiheit.

»Man hat mich angefordert, weil Sie in den letzten vier Monaten eine Menge durchgemacht haben. Die Ärzte sind der Meinung, eine Gesprächstherapie könne Ihnen dabei helfen, das geschehene zu verarbeiten und zu verstehen, warum es so weit gekommen ist.«

Warum es so weit gekommen war? Machte der Mann Witze? Sie wusste, warum. Zudem wollte sie nicht darüber reden. Nicht jetzt und auch nicht in näherer Zukunft. Sie wollte einfach nur vergessen und zurück in ihr altes Leben.

»Hat man ihn gefasst?«, fragte sie angestrengt und mit heiserer Stimme. Himmel, das brannte vielleicht. Ihr Hals war immer noch wund und es würde wohl auch noch eine Weile dauern, bevor er sich wieder erholte.

Doch ihr Körper würde heilen, oder nicht? Zumindest die Ärzte hatten in den letzten drei Tagen nichts Besseres zu tun gehabt, als ihr dies immer wieder zu versichern. Sie sah den Mann an und wartete. Was sollte sie auch groß sagen? Inzwischen schien jeder zu wissen, was geschehen war. Ihre Eltern versuchen zwar sie zu schonen, doch auch ihr war nicht entgangen, wie viel Aufmerksamkeit ihr Fall inzwischen auch von Seiten der Medien erhielt. Teilweise auch deswegen, weil die Polizei immer noch auf der Suche nach dem Täter war und sein Bild nun stündlich in den Nachrichten auftauchte. Einer der Gründe, wieso sie den Fernseher ausließ. Zudem ertrug sie den Lärm im Augenblick einfach nicht. Das stetige Piepen der Maschinen war schon schlimm genug. Doch wenigstens hier hatte man Mitleid gehabt und die Lautstärke reduziert. Nun war es nur noch ein stetiges Hintergrundrauschen, das sie leicht ausblenden konnte.

»Miss Walsh, es ist wichtig, dass Sie eines verstehen«, setzte der Psychologe erneut an. »Das, was geschehen ist, ist nicht ihre Schuld.«

Das saß. Ihre Schuld? Natürlich war es nicht ihre Schuld, wie kam dieser Quacksalber nur darauf, sie könne glauben ...? Das Hintergrundpiepen nahm plötzlich an Geschwindigkeit zu und sie begann zu zittern. Der Raum drehte sich um sie und Melody bekam keine Luft mehr.

»Raus«, zischte sie angestrengt und verkrallte ihre Finger in der weißen, gestärkten Krankenhausbettwäsche.

»Miss Walsh ...«, setzte Dr. Bailey an.

»Raus hier!« Der Schrei war wohl laut genug, um das Personal auf dem Flur auf den Plan zu rufen, denn beinahe sofort öffnete sich die Tür.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich die Schwester.

»Er soll gehen!«, brachte Melody mühevoll zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Warum saß der Mann immer noch vollkommen ruhig an seinem Platz? Wieso verschwand er nicht endlich?

Mit jeder Sekunde steigerte sie sich weiter in ihre Wut herein und diese verwandelte sich langsam in Panik. Warum ließ man sie nicht endlich in Ruhe? Wieso durfte sie nicht einfach alleine sein? In den letzten vier Monaten hätte sie nicht geglaubt, diesen Wunsch zu äußern. Immerzu hatte sie sich andere Menschen herbeigesehnt und dafür gebetet, man möge sie finden. Nun war sie hier, in einem Krankenhaus und vermeidlich in Sicherheit, und sie wünschte sich nichts mehr als alleine gelassen zu werden. Sie ertrug die Menschen um sich herum nicht, weder die Fremden, noch die, die sie kannte.

Die Beklommenheit ihrer Eltern und Freunde machte sie wahnsinnig. Alle wollten sie für sie da sein, nun wo sie wieder da war, doch niemand schien zu wissen, wie.

Unleashed Life - Der Kampf zurück ins GlückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt