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Am Dienstagmorgen landete Melody in Kanada auf dem Calgary international Airport. Seit Graces Anruf waren erst wenige Tage vergangen. Es war alles unglaublich schnell gegangen, nachdem der Arzt ihre Rippenfraktur für stabil genug befand, damit Melody die Reise auf sich nehmen konnte.

Um einer Panikattacke vorzubeugen, war sie mit ausreichend Beruhigungsmitteln versorgt worden. Den Flug hatte sie in einem Zustand der vollkommenen Gleichgültigkeit verbracht. Nun, zumindest nachdem sie zwei mal die Gesichter sämtlicher Fluggäste überprüft hatte, nur um sicherzugehen, dass er sich nicht ebenfalls im Flugzeug befand.

Als sie die Maschine verließ, ließ die Wirkung der Tabletten langsam nach. Ein unpassender Zeitpunkt, wenn man an die Menschenmassen dachte, denen sie sich nun stellen musste. Reiß dich zusammen!, mahnte sie sich stumm und sah sich hilfesuchend nach Grace um. Diese hatte ihr versprochen, sie am Flughafen abzuholen.

Auf Grace war, wie immer verlass. Sie kam ihr gleich entgegengelaufen, sobald sie Melody erblickte. Anstatt sie wie üblich in eine feste Umarmung zu schließen, blieb Grace jedoch kurz vor ihr stehen und musterte sie skeptisch.

Melody war klar, was ihre Freundin nun sah. Der weite, schwarze Pullover und die ebenfalls schwarze Jeans. Auch diese war ihr zu groß, da sie erheblich an Gewicht verloren hatte, seit sie sie zum letzten Mal getragen hatte. Dann das schwarz gefärbte Haar, das kraftlos um ihr Gesicht lag.

»Darf ich einen Hinweis zu deinem äußeren machen?«, erkundigte Grace sich mit belustigten Unterton. Da Melody jeglichen Kommentar dazu bereits von Millie und ihren Eltern zu hören bekommen hatte, zuckte sie mit den Schultern. »Du solltest hin und wieder mal schlafen.«

Zugegeben, darauf wäre sie nun nicht gekommen. Jeder bemäkelte den radikal veränderten Stil. Früher waren ihre Klamotten flippig und möglichst bunt gewesen, nun wollte sie keine auffallenden Farben mehr tragen und das fiel ihrem Umfeld auf.

Grace schien dies jedoch egal zu sein, denn sie verwarf das Thema sofort. »Darf ich dich in den Arm nehmen, oder geht das nicht?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

Anstatt zu antworten, trat Melody einen Schritt vor und umarmte nun ihre Freundin. Der vertraute Geruch und die Vorsicht mit der Grace die Umarmung erwiderte, besaßen eine beruhigende Wirkung. Melody legte ihren Kopf auf Graces Schulter und schloss für einen Moment die Augen, um alles andere auszublenden.

»Es tut gut, dich hierzuhaben«, murmelte Grace und löste sich dann von ihr. »Komm, lass und gehen. Wir haben noch ein ganzes Stück Fahrt vor uns.«

»Ist mir recht«, antwortete Melody automatisch. Dies war eine Angewohnheit, die sich in den letzten Wochen eingeschlichen hatte. Niemand schien ernstlich daran interessiert, wie sie die Dinge wirklich empfand, also antwortete sie lediglich mit den Phrasen, die man gerne hören würde. So war es ihr auch gelungen, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden und sich gegen eine erneute Psychotherapie zu wehren. Nach ihrem Erlebnis mit Dr. Bailey war eine Therapie das Letzte, was sie wollte.

Nachdem sie Melodys Koffer ergattert hatten, gingen sie zum Auto. Die ausbleibende Panikattacke, mit der Melody fest rechnete, kam einem Wunder gleich. Ob es noch an den Tabletten lag, oder an Graces nähe, konnte sie nicht sagen. Sie wusste nur, wie dankbar sie ihrer besten Freundin war, sie zu dieser Reise gezwungen zu haben.

Den Weg zur Farm der Morins verbrachten sie größtenteils schweigend. Zu Beginn versuchte Grace noch, sie in ein Gespräch zu verwickeln, doch da Melody immer nur einsilbig antwortete, gab ihre Freundin bald auf.

Melody war erschöpft, aber sobald sie die Augen schloss, holten sie die Bilder ein. Vielleicht war diese Reise doch keine derart gute Idee gewesen. Wie oft war sie nachts schreiend erwacht, weil die Erinnerungen sie wieder einholten? Sie konnte es nicht mehr zählen. Kurz nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatte, waren ihre Eltern jedes Mal in ihr Zimmer gestürzt. Irgendwann hatten sie gelernt, es zu ignorieren, da Melody besser allein damit zurechtkam. Wenn sie in ihren Erinnerungen gefangen war, konnte sie niemanden um sich herum ertragen. Ob Grace und ihre Familie damit klar kamen? Konnten sie es akzeptieren, oder würden sie sich womöglich durch sie gestört fühlen.

Unleashed Life - Der Kampf zurück ins GlückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt