Prolog

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Wann wissen wir loszulassen, was wir lieben? Und wie viel Leid uns erspart bleibt, wenn wir das Seil an dem unsere Hände verwunden, einfach loslassen?...

„Ihre Werte sind Stabil", eine Frau in Blau gekleidet setzte dem Mädchen eine Larynxmaske auf und griff nach einem Skalpell. Das Licht über den Operationstisch war so grell, dass das Mädchen kaum etwas außer unscharfe Umrisse erkennen konnte: „Ich bin noch nicht eingeschlafen". Die Dame ignorierte das schwache Gerede der Braunhaarigen und setzte das Skalpell kurz unter ihrem Herzen an. Sie versuchte zu schreien, doch es gelang ihr einfach nicht. Vorsichtig übte die Frau Druck aus und drang somit in die Haut des Mädchens ein. „Stopp! Hört auf!". Aus dem nichts alarmierten die Monitore neben der Braunhaarigen. Ihr Körper begann zu verkrampfen: „Blutdruck sinkt, ein septischer Schock". „Die vasopressorischen Substanzen, schnell!", sagte einer der umherstehenden Herren, der ständig auf den Operationstisch starrte. „Wir haben keine Zeit mehr, wir verlieren sie! Wir verlieren sie!".

*

„Lorena, wach auf". Mit einem Ruck richtete sich das Mädchen auf. „Hast du wieder schlecht geträumt?". Völlig außer Atem starrte die Angesprochene auf die Bettdecke, die ihr um die Hüfte ging. Wie sie diese selbstgestrickte Decke ihrer Großmutter liebte, war unbeschreiblich. Sie war weich und wurde aus goldenem Garn gehäkelt. Es war das Letzte was ihre Großmutter ihr hinterlassen hatte. Langsam fuhr Lorena mit ihren Händen die Decke entlang, um nach der Hand ihrer Mutter zu greifen. „Ich sollte langsam aufhören, all diese Horrorfilme mit Pápa zu schauen", sagte die Braunhaarige mit einem Schmunzeln im Gesicht. Ihre Mutter grinste und fuhr mit ihrem Handrücken über die errötete Wange des Mädchens: „Diese Idee ist gar nicht so schlecht. Wie dem auch sei, zieh' dir etwas an. Frühstück ist fertig". Mit einer flinken Handbewegung zog sie die Decke über ihre Hüften hinweg und kalte Luft begrüßte ihren Unterkörper. Ein weiteres Mal zuckte das Mädchen leicht zusammen, als es mit den Fersen den Boden berührte. Ihr Kleiderschrank war nur einige Schritte von ihr entfernt. Dieser war aus Eichenholz geschnitten und mit zwei Spiegeltüren versehen. Ihr Zimmer war in einem hellen Besch gestrichen, welches durch das hineinstrahlende Sonnenlicht besonders zur Geltung kam.

Genau einen Schritt vor ihrem Schrank blieb sie stehen und wartete darauf, dass ihre Mutter ihr Zimmer verließ. Sobald die Tür ins Schloss fiel, begann das Mädchen sich vor dem Spiegel zu mustern. Mit der Hand fuhr sie über ihr blaues Top und zog es sich bis zu ihrem Kinn hoch. Gefolgt von einem tiefen Atemzug, schloss sie beide Augenglieder für einige Sekunden. Als Lorena die Augen wieder öffnete, fixierte sie sich auf die Narbe über ihrem Brustbein. Vorsichtig strich sie mit der Hand darüber und beobachtete sich selbst dabei, wie ihre Atmung flacher wurde. Nichts verankert Geschehnisse so fest im Gedächtnis, wie der Wunsch sie zu vergessen.

Nachdem sie sich ein passendes Outfit zurechtgelegt hatte und es anzog, band sie ihre Haare zu einem Zopf. Ein schlichtes weißes T-Shirt, kombiniert mit einer grauen Jogginghose gingen nun Mal immer. Vorsichtig stieg Lorena die Treppen hinab und schlenderte den Flur entlang, geradewegs in die Küche. Doch zu ihrer Überraschung saß jemand am Tisch, den sie absolut nicht erwartet hatte. Ihre Miene verdunkelte sich sekundenschnell, während sie ihre Hände zu Fäusten ballte:

„Was macht der hier?".

„Bitte lass es mich erklären, Lorena", ein Junge mit hellbraunem Haar und braunen Augen erhob sich und lief auf das Mädchen zu. Seine Augen waren so dunkel, dass man den Übergang zwischen seiner Iris und der Pupille kaum erkennen konnte. Ihre Mutter kniff ihre Brauen zusammen und schien genauso ratlos wie ihr Vater zu sein: „Schatz, du hast deinen Freund doch selbst eingeladen?". Lorena legte ihren Kopf schief, doch würdigte den Jungen keines Blickes. „Ich glaube er hat sich selbst eingeladen", voller Wut packte sie ihn am Handgelenkt und zog ihn vor die Haustür. Wie viel Arbeit ihre Mutter doch in den Vorgarten gesteckt hatte. Helle, matte Steine verbanden den Gehweg mit dem Gras, welches fleckenweise mit Veilchen übersehen war. Tatsächlich war ihr Garten hervorstechender als der, der Nachbarn. Das Haus rechts neben ihrem sah recht gewöhnlich aus. Eine weiße Fassade und einen einfachen Gehweg. Ihr Nachbar Joseph hatte nie etwas von solchen Dingen gehalten, trotz seinen 40 Jahren blieb er ein Sturkopf. Ob das Mädchen ihm vielleicht einen bunten Blumentopf andrehen konnte?

Lorena zog die Tür hinter sich ins Schloss und verschränkte ihre Arme ineinander: „Was machst du noch hier?". Der Junge setzte einen flehenden Blick auf, der die Braunhaarige dazu zwang zuzuhören: „Ich weiß das es ein Fehler war, hör' mir bitte zu. Ich will doch nur das du mir verzeihst. Sie hat mir nichts bedeutetet, Lo". Während er redete versuchte er nach ihrer Hand zu greifen, doch sie wich kalt zurück. „Und ich habe dir gesagt, dass ich dich nie wiedersehen will. Seh' zu das du verschwindest", das Mädchen kehrte ihm den Rücken zu und wollte gerade nach der Tür greifen, doch der Junge ließ nicht locker.

„Ich weiß das du mich noch liebst, wirf uns nicht einfach so weg". Er wusste wie riskant dieser Satz war, selbst wenn er ungewiss über ihre Antwort war. Mit einem entfremdeten Blick schaute die Braunhaarige ihm nun in die Augen: „Ich soll uns nicht wegwerfen?". Sie nährte sich ihm ein Stück und presste ihren Zeigefinger gegen seine Brust: „Du warst derjenige, der uns weggeworfen hat! Und zwar genau in dem Moment, als du dich dazu entschieden hast mich zu hintergehen. Ich war mehr als gebrochen und brauchte Ruhe. Statt für mich da zu sein und mir die entsprechende Zeit für meine Genesung zu geben, suchst du dir das nächstbeste Mädchen. Erzähle mir nichts von wegwerfen, wenn du nicht einmal fähig bist die Bedürfnisse der anderen über deine Eigenen zu stellen". „Bitte, ich weiß ich bin ein Idiot. Doch ich bin nichts, wenn du nicht bei mir bist". Das Mädchen entfernte sich wieder einige Schritte von ihm.

„Daran hättest du früher denken müssen, geh' jetzt bitte". Doch stattdessen griff er nach ihrem Arm und zog sie zu sich: „Verdammt Diego, lass mich los!". Lorena befreite sich aus seinem Griff und erkannte schnell, dass sie laut geschrien hatte. Der Junge hob beide Hände in die Luft und entfernte sich Achselzuckend von dem Mädchen: „Wie du willst. Doch du wirst erkennen, dass es nicht nur mein Verlust war". So schaute sie ihm solange hinterher, bis eine unbekannte tiefe Stimme in der Ferne sie regelrecht dazu zwang, sich umzudrehen.

Vor Josephs Haus parkte ein kleines schwarzes Auto. Das Mädchen hatte nicht einmal mitbekommen, wie lange es bereits dastand. Aber noch verwirrender war der Gedanke, dass Joseph Besuch hatte. Aus dem nichts lief eine ältere Dame mit leeren Kartons aus dem Haus, gefolgt von einem jungen Mann, der ihr die Kartons abnahm. Interessiert beobachtete Lorena das Geschehen. Der Junge entnahm dem Kofferraum einen sichtbar schweren Karton, während sich die ältere Dame mit einem leichteren begnügte und bereits ins Haus ging. Genau als er die Hälfte der Strecke absolviert hatte, riss der Karton unter seinen Fingern auf. Das Mädchen lachte, als sie seinen lustlosen Blick betrachtete und er den Rest des Kartons zu Boden warf.

Lorena war sich sicher, dass ihr Lachen hörbar war, also drehte sie sich zur Tür und betrat zügig das Haus.

„Mamma, seit wann hat Joseph eine Freundin?", hallte es durch den gesamten Flur. Und genauso schnell hallte die Gegenfrage ihrer Mutter zurück: „Joseph hat eine Freundin?". Beide klangen genauso aufgeregt, wie überfordert. Die Braunhaarige betrat die Küche, während ihre Mutter diese verließ um aus dem Wohnzimmerfenster zu schauen.

„Deine Mutter konntest du vielleicht ablenken, aber mich nicht. Was ist da gerade passiert?", fragte ihr Vater und setzte eine ernste Miene auf. Lorena ignorierte seine Frage und holte sich aus dem Regal über der Spüle ein Glas, um dieses mit Leitungswasser zu füllen. Dieses Regal war genau wie alle anderen aus Eichenholz. Ihre Mutter ließ die Küche in einem matten weiß streichen, um einen Kontrast zu den dunklen Fliesen zu bilden. Das Tageslicht ließ den Raum, selbst wenn die Sonne hineinstrahlte, kalt aussehen. „Lorena, rede mit mir. Ich möchte nicht, dass du dich stresst". Das Mädchen stand noch immer, mit gekehrtem Rücken zu seinem Vater, vor der Spüle. Es schien sie wieder einzuholen. Wann würde sie lernen, schneller als ihre Vergangenheit zu sein?

Gereizt senkte sie ihren Blick und fuhr spielend mit ihren Fingerkuppeln das befüllte Glas entlang. „Wenn du dich mir nicht öffnen willst, dann eben deiner Mutter. Aber lass es irgendwo aus", sagte er, bevor er aufstand und den Raum verließ.

𝐼𝓈𝓈𝓊𝑒𝓈Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt