Mein 2020

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2021 ist inzwischen ein paar Tage alt. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich etwas zu 2020 sagen will und denke jetzt, dass ich es trotz allem wirklich tun möchte.

Ich muss ein wenig ausholen, um mein 2020 in die richtige Perspektive zu rücken.


Schon in der Grundschule habe ich Geschichten geschrieben. Damals wollte ich Schriftstellerin werden, aber ich bin relativ schnell zu der Einsicht gekommen, dass man davon kaum leben kann, zumindest nicht zu Beginn. Mit etwa 14 erwachte mein Interesse an Politik und damit kam mir die Idee, Journalistin zu werden - auch da könnte ich schreiben und gleichzeitig könnte ich über Politik Bericht erstatten. Alle Entscheidungen, die ich danach getroffen habe, richteten sich daran aus. Ich habe Englisch und Geschichte als Leistungskurse gewählt und gegen Ende meiner Schulzeit erste Praktika bei Zeitungen. Für mein Studium habe ich Politikwissenschaft und Japanologie gewählt, um neben dem recht geläufigen Studium auch noch etwas Exotisches zu haben - und ich war sowieso gerade im Japan-Fieber.

Während dieser Zeit habe ich aber nie aufgehört zu schreiben - insbesondere Fanfictions zu Harry Potter. Ich konnte und wollte diesen Teil meiner Leidenschaft nicht aufgeben und ein kleiner Teil von mir hat immer davon geträumt, doch noch Schriftstellerin zu werden.

Mehrere journalistische Praktika später kam ich zu der Erkenntnis, dass das Feld nichts für mich ist. Mir fehlen die Ellenbogen, die richtige Einstellung, um mit Menschen auf diese Weise zu kommunizieren. Die Artikel und Reportage, die ich verfasst habe, wurden stets gelobt, doch der Weg dahin war so schwierig für mich, dass ich erkennen musste, dass das niemals etwas werden wird. Selbstbewusstsein kann man sich antrainieren, aber nur bis zu einem gewissen Grad.

Also stand ich ohne Berufsziel da und nahm deswegen das erste, was mir in den Sinn kam: eine akademische Laufbahn. Ich liebte mein Studium und das Lernen auf eine Weise, wie wohl nur wenige es tun. Insbesondere Politische Theorie und Ideengeschichte ließ mein Herz höher schlagen. Je theoretischer, abstrakter und komplexer die Texte, umso besser. Ich sprach mit Dozenten und Professoren über den Weg - und kam dann im Master zu der Einsicht, dass das ebenfalls ein Holzweg ist. Zum Einen fehlte mir wieder das richtige Selbstbewusstsein - eine These stolz zu präsentieren und mit absoluter Sicherheit zu verteidigen, wenn ich weiß, dass es genauso gute Argumente dagegen gibt, fiel mir schwer. Außerdem war es ein unfassbar schlecht bezahltes, unsicheres Feld. Die wenigsten erlangen eine Professur und alles darunter ist lachhaft unsicher. Also habe ich auch das aufgegeben.

Als ich also 2016 meinen Master endlich hatte, habe ich zunächst einen 450€-Job gemacht. 2017 habe ich meinen Ehemann geheiratet und damit wurde etwas möglich, was ich nie für möglich gehalten habe: doch noch meinen Traum zu verfolgen. Er hat mir gut zugeredet und mich unterstützt und überzeugt, dass es in Ordnung ist, wenn ich meinen Traum verfolge, während er das Geld verdient. Ich wollte also wieder schreiben. Ich habe ein Manuskript erstellt, Exposés geschrieben, bei der Buchmesse mit Verlagen und Lektoren gesprochen - und als ich dann im Juni aus den Flitterwochen zurückkehrte, kam die harte Realität: Nach Lektüre meiner Leseprobe war kein einziger Verlag an meiner Geschichte interessiert. Und es waren nicht gerade wenige, die im ersten Schritt, ohne Leseprobe, Interesse geäußert hatten.

Ich habe also weiterhin einen Nebenjob gemacht und versucht, das Gefühl des Versagens zu ignorieren. Das hat natürlich nicht geklappt und so fand ich mich 2018 für ganze 7 Monate in einer Psychiatrie wieder. Nachdem ich entlassen wurde, habe ich mir für 2019 nur ein einziges Ziel gesetzt: an meiner psychischen Gesundheit arbeiten. Noch während ich in der Psychiatrie war, habe ich angefangen, für Wattpad zu arbeiten, aber nur ein paar Stunden die Woche. Das habe ich 2019 fortgesetzt, während ich weiterhin die psychiatrische Institutsambulanz besucht habe - Einzeltherapie, Gruppentherapie, Ergotherapie, Musiktherapie - ich habe alles mitgenommen, was mich stärker und gesünder machen kann.

Dann kam 2020.

Ich erhielt zu Beginn des Jahres das Angebot, noch mehr für Wattpad zu machen und habe nach Absprache mit meiner Therapeutin akzeptiert. 20 Stunden die Woche, das war mehr, als ich in den letzten Jahren je gearbeitet habe. Aber es war ein Job, der meinem Traum so nahe war, dass ich es gerne getan habe - junge Autorinnen und Autoren finden und fördern. Geschichten finden und fördern. Ich konnte immer noch meine Therapie machen und gleichzeitig echtes Geld verdienen.

Bis Corona kam. Alle Therapieangebote wurden auf Eis gelegt und ich konnte mit meiner Therapeutin nur noch telefonisch kommunizieren. Ich war plötzlich alleine, wie so viele andere Mitpatienten auch. Meine ursprüngliche Diagnose war eine Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und histrionischen Anteilen sowie eine Essstörung. Später kam noch der Verdacht auf eine Somatisierungsstörung hinzu, doch ehe wir die Diagnose endgültig stellen konnten, kam Corona. Die Somatisierungsstörung war es dann auch, die mir den Beginn der Coronazeit wirklich schwer gemacht hat. Grob gesagt bedeutet diese Störung, dass ich Gefühle nicht als Gefühle wahrnehme, sondern als körperliche Symptome - vor allem Übelkeit. Sie bedeutet auch, dass mir alle körperlichen Symptome Angst machen und ich am liebsten ständig zum Arzt rennen würde - ähnliche wie bei Hypochondern. Als ich im März Husten bekam, der von Asthmasymptomen begleitet wurde und über Wochen nicht abklang, war ich, gelinde gesagt, dauerhaft angespannt.

Doch es sollte sich als Glücksfall für mich erweisen. Ängste lassen sich durch nichts besser bekämpfen, als durch positive Erfahrung. Die Tatsache, dass ich jeden Tag mit Kurzatmigkeit und Husten zu kämpfen hatte, aber trotzdem jeder Tag normal verlief, ich schlafen konnte, essen konnte, arbeiten konnte, sickerte ganz langsam in mein Bewusstsein. Und plötzlich realisierte ich, dass ich keine Angst haben muss. Es ist schwer für Außenstehende, die keine Ängste haben, zu begreifen, wie wenig man mit seinem logischen Verstand an Ängste rankommt. Aber die Erfahrung über Wochen und Monate, dass alles okay ist, hat mich gestärkt. Zum ersten Mal hatte ich wieder das Gefühl, meinen Körper zu kennen und ihm zu vertrauen. Ich fühlte mich kompetent und stark.

Und dann wurde mir eine Vollzeitstelle bei Wattpad angeboten. Ich, mit meinen psychischen Problemen, sollte in Vollzeit arbeiten? Noch wenige Monate zuvor wäre das undenkbar gewesen, aber alles, was da war, war Freude und Stolz und Energie. Also habe ich angenommen und arbeite seit Juli in Vollzeit. Und ich habe gemerkt, dass ich gut bin. Dass ich das tatsächlich kann. Ich konnte Vollzeit arbeiten, die Wohnung sauber halten, ohne Ängste das Haus verlassen, ohne Ängste telefonieren und Videocalls machen. Ich konnte essen - mal mehr, mal weniger gut, aber immer ohne abzunehmen - und ich konnte mit privaten und beruflichen Problemen und Stress umgehen.

Ich habe mich noch nie in meinem Leben so erwachsen und kompetent gefühlt. Ich bin 32 und fühle mich das erste Mal so, wie man sich wohl als Erwachsener fühlen sollte. Für mich war 2020 ein gutes Jahr nach vielen, vielen dunklen Jahren voller Zweifel. Ich schreibe wieder mehr und motivierter. Ich unterstütze anderen Autorinnen und Autoren beim Schreiben. Ich mache einen Job, der mir Erfüllung bringt, obwohl es nie mein Traum war.

Und ich weiß, wie privilegiert mich das macht. Für die meisten anderen Menschen war 2020 ein Jahr voller Zweifel und Existenzängste. Ich arbeite freiberuflich für Wattpad und bin damit eine der wenigen Selbstständigen, die nicht in eine finanzielle Krise gerutscht sind. Mein Ehemann ist seit März im Home Office. Wir müssen unsere Wohnung ausschließlich zum Einkaufen verlassen. Wir leben sicherer, sowohl gesundheitlich als auch finanziell, als die meisten anderen in dieser Zeit. Ich war schon vorher in therapeutischer Behandlung und konnte, trotz allem, die Therapiegespräche während des Lockdowns fortführen, um stabil zu bleiben.

Viele andere haben das nicht. Deswegen habe ich gezögert, etwas zu schreiben, denn ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man selbst in einer Krise steckt und man andere sieht, die glücklich sind. Aber ich weiß auch, dass es niemandem hilft, wenn ich mich schuldig fühle. Es hilft niemandem, wenn ich Mitleid habe. Also schreibe ich hier, so neutral und ehrlich wie möglich, auf, wie mein 2020 war. Und ich hoffe, dass meine Geschichten zumindest ein wenig Licht in die finsteren Tage bringen, ebenso wie ich hoffe, dass jene Autorinnen und Autoren, mit denen ich zusammenarbeite, dadurch ein wenig mehr Freude in ihrem Alltag haben - denn ich weiß, jede/r einzelne von ihnen bringt mir Freude.


Ich interessiere mich ehrlich und aufrichtig für euer 2020. Wie habt ihr es erlebt? Welche Veränderungen, egal ob durch Corona oder nicht, gab es bei euch? Auf was freut ihr euch in 2021?

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 03, 2021 ⏰

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