Kapitel 6

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Piep, Piep, Piep. Was ist das bitte für ein nervtötendes Geräusch?! Langsam öffne ich meine Augen und schaue verwirrt im Raum herum. Das ist nicht mein Zimmer..und auch nicht mein Bett."Piep, Piep, Piep", ich schaue in die Richtung aus der dieses Geräusch kommt und merke, dass es Geräte sind, an die ich angeschlossen bin. Ich stöhne auf.

"Krankenhaus..", stelle ich trocken fest. Wie soll ich das jetzt Mom und Dad erklären? Sofort schießen mir die Erinnerungen in den Kopf und damit auch meine Tränen. Doch diesmal können sie nicht herunterfließen, da es an der Tür klopft. Schnell wische ich mir durch die Augen und bringe ein brüchiges "Ja?", hervor. Ich erwarte schon Mom mit verweinten Augen und einem sorgvollen Gesichtsausdruck, währenddessen Dad mich ernst und stumm ansehen wird. Doch es sind nicht meine Eltern, die das Zimmer betreten.


Melanie.
"Naa, bist du schon wach?", fragt sie sanft lächelnd.
"Nee, ich schlafe noch.", denke ich sarkastisch aber ich zwinge mich zu einem Lächeln und nicke brav. Immer schön lächeln und nicken, dann kann nichts falsch gehen..
Sie setzt sich auf einen Sessel, der in der Nähe meines Bettes steht. Am liebsten würde ich jetzt rausrennen.


"Wie geht es dir?", fragt Melanie. Ich zucke mit den Schultern. "Blendend und dir?", sage ich emotionslos. Ich habe jetzt keine Lust darauf therapiert zu werden. Ich bin sowieso ein hoffnungsloser Fall, wieso können die mich nicht einfach alle in Ruhe die Jahre meines trostlosen Lebens leben lassen?


Sie schaut mich an, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte. Fragend schaue ich zurück und es verstreichen einige Minuten in denen wir uns einfach anschweigen.
Sie ist eigentlich eine sehr hübsche Frau. Ungefähr Mitte 30, ihre blauen Augen sind wunderschön, doch sie können einen auch förmlich durchbohren, ihre blonden, schulterlangen Haare sitzen wie immer perfekt (was für ein Shampoo benutzt diese Frau eigentlich? Das muss ich unbedingt mal herausfinden!) und ihre vollen Lippen deuten ein leichtes Lächeln an.

Langsam werde ich ungeduldig. "Ahh, verstehe. Das ist wieder eins deiner komischen Spielchen. Augen sind ja bekanntlich das Tor zur Seele.", sage ich frustriert. "Und, was sagen dir meine Augen?", frage ich sie ironisch.

"Das du Hunger hast.", stellt sie fest und im selben Moment knurrt mein Bauch. Sofort spüre ich wie ich rot werde und nun muss sie wirklich lächeln. Aus ihrer Tasche holt sie eine Tüte heraus und gibt sie mir. "Deine Mutter.", erklärt sie bloß und sofort verstehe ich.

Selbst wenn eine Zombie-Apokalypse ausbrechen würde, Mom würde uns vorher noch Brote schmieren. Diese Frau behält einfach immer den Überblick. Genüsslich beiße ich in mein Nutella Brot (Schockolade macht ja bekanntlich glücklich) und merke wie mich Melanie beobachtet. Sofort höre ich auf zu kauen. "Ehhm...weißt du, ich mag es eigentlich nicht, wenn man mich beim Essen beobachtet..", sage ich nervös. Das war die Untertreibung des Jahres. Ich hasse es über alles!

"Du magst es allgemein nicht, wenn man dich beobachtet.", kontert sie und ich muss ihr gegen meinen Willen Recht geben. Dafür das sie meine Freundin sein soll, ist sie ziemlich nervig. Ich unterdrücke den Drang ihr die Zunge rauszustecken und esse langsam weiter.

Sehr, sehr langsam um genau zu sein. Das merkt auch Melanie, denn sie sagt: "Du weißt, dass ich ein sehr geduldiger Mensch bin. Und das ich sowieso heute nichts anderes zu tun habe oder?", ich schaue sie an und sie lächelt mich an. Innerlich stöhne ich auf. Hat diese Frau eigentlich keine anderen Hobbys? Plötzlich kommt mir eine Idee.

"Melanie...du sagst ja immer, dass du eine Freundin von mir bist und gar keine Psychologin. Aber muss man seine Freunde nicht kennen? Ich weiß gar nicht wer du bist, aber du weißt alles über mich.", vorwurfsvoll schaue ich sie an. Natürlich ist das alles ein Ablenkungsmanöver und ich bin mir auch sehr sicher, dass es nach hinten los gehen wird. Doch damit nutze ich wertvolle Zeit und später werde ich einfach sagen, dass ich müde bin. Ich möchte heute einfach nicht über die Sachen reden, die passiert sind.


Und vor allem möchte ich nicht über meine Vergangenheit reden. Nicht heute. Nicht jetzt.


"Na schön.", ertönt Melanies Stimme. "Was möchtest du wissen?" Ich starre sie entgeistert an. Hat sie grade..? "Hä?", gebe ich ziemlich intelligent von mir. Sie fängt an zu lachen.

"Was hast du gedacht? Das wir jetzt anfangen zu diskutieren und ich irgendwann gehe? Außerdem hast du Recht, ich möchte nicht, dass du mich als eine lästige Psychologin ansiehst.", sie zwinkert mir zu und ich erröte. Scheiße. Das war alles eigentlich ganz anders geplant. Sie sieht mich abwartend an und ich frage das erste was mir in Sinn kommt: "Hast du einen Freund?"

Melanie fängt an zu lachen: "Ja, ich habe einen Freund. Seit 6 Jahren." "6 Jahre schon? Boah krass..", platze ich heraus. "Was ist daran so abwegig? Dachtest du ich habe kein Privatleben und keine Freunde?". fragt sie.
"Um ehrlich zu sein, ja.", gebe ich zu und wir beide fangen an zu lachen.

Wow. Ich sitze hier mit meiner Psychologin und lache. Wie krass ist das denn bitte?

"Warum bist du Psychologin geworden? Ich meine...ich weiß nicht ob ich das könnte. Ich habe mal gelesen, dass Psychologen öfter Selbstmord begehen als ihre Patienten.", der Beruf muss grausam sein. Alleine meine Geschichte ist grausam und krank und ekelhaft genug und Melanie hat noch andere Patienten, ich würde diesen Kummer gar nicht aushalten können.

Melanie atmet tief ein. "Ich hatte einen schweren Start im Leben..", beginnt sie. Ich richte mich auf und schaue sie gespannt an.

Oh gott, jetzt kommt's.

"Ich bin die Jüngste von drei Kindern. Beziehungsweise ich war es. Ich hatte zwei ältere Geschwister, einen großen Bruder und eine große Schwester. Unser Altersunterschied war groß, das lag daran, dass meine Mutter zwei mal geheiratet hat, das erste Mal war sie sehr jung. Als ich also zur Welt kam war mein Bruder schon 19, meine Schwester 16. Wir hatten große, finanzielle Probleme. Meine Eltern mussten beide putzen gehen. Eines Morgens, als ich 7 Jahre alt war und aufgewacht bin, fand ich plötzlich meine Mutter nicht mehr. Ich suchte überall nach ihr, doch sie war nirgendwo. Es stellte sich heraus, dass sie abgehauen ist. Sie hat uns zurück gelassen. Sie hat nicht mal erklärt wieso.
Sie ist einfach..weg.
Ich weiß bis heute nicht, wo sie ist und ob sie überhaupt noch lebt. Ab da fingen dann die wirklichen Probleme an.

Mein Vater wurde depressiv. Er konnte nichts mehr machen, ging deshalb auch nicht arbeiten.
Mein Bruder wurde drogensüchtig. Er hat die komplette Situation nicht ausgehalten. 5 Monate später ist er gestorben-an einer Überdosis.
Meine Schwester fing an, sich zu prostituieren. Anders wären wir verhungert.

Mein Vater war immer noch nicht ansprechbar, bis meine Schwester ihn eines Tages an der Decke hängen sah. Anders als meine Mutter hat er sich in einem Brief verabschiedet. Meine Schwester war mein Halt, sie hat all diese Dinge immer vor mir verheimlicht, ich habe das alles viel später erfahren. Sie hat mich in ein Heim gebracht, es ist für mein Bestes hat sie gesagt. Sie hat versprochen mich zu besuchen. Ich habe sie nie wieder gesehen. 20 Jahre später habe ich erfahren, dass sie ebenfalls gestorben ist. Ihr Zuhälter hat sie skrupellos umgebracht, als sie abhauen wollte.

All das ist wegen einem einzigen Menschen passiert. Wegen meiner Mutter. Ich wollte wissen, wie ein Mensch sowas machen kann. Ich wollte es verstehen und nachvollziehen. Deshalb bin ich Psychologin geworden. Um meine Vergangenheit hinter mir zu lassen und damit abzuschließen.", sie schaut mich an und lächelt. "Und ich habe es geschafft. Es war ein harter und mühsamer Weg, aber schau wo ich jetzt bin. Und das wichtigste ist: Ich bin glücklich, Lia. Ich habe den besten Mann an meiner Seite, ich bin gesund, ich habe ein Dach über meinem Kopf und ich habe meinen Traumberuf. Und nebenbei bemerkt habe ich einzigartige Patienten.", sie zwinkert mir zu doch ich schluchze auf.

Während sie die ganze Zeit geredet hat, sind mir stumm die Tränen über meine Wangen geflossen. Ich hätte das niemals im Leben gedacht. "Es...es tut mir so L..", sie unterbricht mich indem sie aufsteht und mich in den Arm nimmt und das ist mein Startzeichen.
Ich weine alles aus mir heraus.
Ich weine um Luke, ich weine um Melanie und ihre Geschichte und ich weine um mich.
Denn auch bei mir hat ein einziger Mensch es geschafft, mein komplettes Leben zu zerstören.


Mein leiblicher Vater.

Li(n)aWo Geschichten leben. Entdecke jetzt