Sie stehen da. Nebeneinander im Regen, am Ufer eines kleinen Teiches.
Möchtest du nicht zu mir ins Trockene kommen?, fragt er sie bereits das zweite Mal. Er macht sich sorgen um sie. Sie war den ganzen Tag schon still. Doch sobald sie konnte, stürmte sie nach draussen. Ohne Jacke, ohne Schirm. Er musste sie nicht suchen. Er wusste wo sie hinwollte.
Danke, antwortet sie leise, aber wenn ich mich neben dich stelle, wirst du nur nass. Von mir und weil du dann keinen Platz mehr unter dem Schirm hast.
Schweigen.
Er betrachtet sie. Wie sie da steht, in ihrem senfgelben Hosenanzug, durchnässt bis auf die Knochen. Ihre Jacke hat sie liegen gelassen, so dass man nun ihren BH durch die weisse Bluse hindurch sehen kann. Doch das ist es nicht, was seinen Blick festhält. Nein, es ist die Ruhe, die auf ihrem Gesicht liegt. Sie hat es dem Himmel entgegengestreckt, die Augen geschlossen und lächelt sanft.
Diesen Ausdruck hat er schon lange nicht mehr auf ihrem Gesicht gesehen. In letzter Zeit war es auf der Arbeit viel zu stressig. Sie war immer gereizt, übermüdet und gehetzt. Ständig rennt sie von einem Meeting ins andere, hält sich nur noch mit Kaffee wach und hat beträchtlich abgenommen. Von seiner molligen, fröhlichen Kollegin ist nicht mehr viel übrig. Sie hat einem Mainstream Workaholic Platz gemacht.
Doch jetzt, wie sie so dasteht im Regen, lächelnd und friedlich, da sieht er sie wieder. Die aufgeweckte, junge Frau, die voller Tatendrang und abenteuergeist die Welt erobern wollte. Ein Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht. Eines jener Lächeln, die man einfach nicht unterdrücken kann.
Du magst Regen, nicht wahr?, fragt er sie.
Ja, kommt die Antwort.
Wieso?
Regen hat etwas magisches, meint sie und schaut ihn mit ihren sanften, dunklen Augen an, Es ist, als würde der Himmel der Erde Liebesbriefe senden, in jedem Tropfen einen. Die Erde lechzt nach dem Regen, sie saugt ihn auf, erwartet ihn, liebt ihn. Sie braucht ihn, so wie sie die Sonne braucht, die ihre warmen Strahlen nach ihr ausstreckt und sie berührt.
Ich stehe gerne im Regen. Höre seinem Reden zu. Ich stehe gerne im Regen. Höre der Erde beim Seufzen zu. Die Regentropfen die der Erde entgegen fallen machen eine Reise. Sie gehen zur Erde als Boten des Himmels, überbringen ihr die Liebe des Himmelns, bis die Sonne ihre Strahlen ausstreckt und sie zurückholt. Zurückholt mit den Liebesbotschaften der Erde. So stehen die beiden Liebenden in Kontakt, wenn sie sich auch niemals treffen können.
Schweigen.
Er denkt über ihre Worte nach. Zwei Liebende, die sich mit dem Regen Botschaften schicken.
Aber wieso musst du dafür im Regen stehen?, fragt er sie.
Ich höre gern dem Regen zu, sie lächelt ihn an, Seine leise Stimme kannst du nur hören, wenn du dich im ganz hingibst. Jeder Regentropfen hat eine Liebesbotschaft in sich. Wenn er dich trifft, lässt er sie frei.
Unter einem Dach, klingt die Stimme des Regens hohl und nachhallend. In einem Haus kannst du ihn nicht hören und unter einem Schirm da klingt er laut, tosend und abstossend.
Sein Blick wandert nach Oben. Über ihm hängt der schwarze Regenschirm. Laut prasselt der Regen darauf, donnern kracht er auf das gespannte Tuch.
Wieso hörst du gerne dem Regen zu?, fragt er.
Er erzählt mir Geschichten, ihr Blick wandert über die Landschaft vor ihnen, Er erzählt mir von seinen Abenteuern. All den Orten, an denen er bereits war. Er erzählt mir von seinen Reisen und der Liebe von Himmel und Erde. Der Liebe jenen Urgestalten, die sich niemals treffen können. Sie erzählen mir Geschichten über uns Menschen. Wie gut wir es doch haben. Wir können uns treffen, uns berühren, uns lieben, ohne so weit voneinander entfernt zu sein. Und doch, hält unsere Liebe keine Ewigkeit.
Jeder Regentropfen erzählt eine andere Geschichte. Jene die aufs Wasser aufschlagen, erzählen mir, wie schön das Blau der Erde ist. Wie gewaltig ihre Meere und wie schön ihre Seen.
Jene die auf die Wiese fallen, jubeln über seine Grüne. Über die Einzigartigkeit jeder Blume. Darüber dass alles einmalig und wunderschön ist. Das die Natur ein Geschenk ist, ein Wunder.
Jene die auf die Steine fallen, bewundern die Höhe der Berge. Wie weit sich die Erde nach dem Himmel ausgestreckt hat, was für gewaltige Anstrengungen sie auf sich genommen hat um dem Himmel nah zu sein.
Und jene die dich treffen?, fragt er.
Jene die mich treffen, erzählen mir von der Liebe vom Vater. Der Liebe vom Vater des Himmels und der Erde. Sie erzählen mir, wie wunderbar und einzigartig, wunderschön und umwerfend ich bin. Dass ich ein Meisterwerk bin. Gemacht um zu Lieben. Gemacht um zu Leben.
Deswegen liebe ich den Regen. Er erzählt von Liebe, nur von Liebe. Er ist ein Bote der Liebe, ein ewiger Bote, zwischen Himmel und Erde, Mensch und Gott.
Schweigen.
Sie legt ihren Kopf wieder in den Nacken und lässt den Regen über ihr Gesicht laufen. Sein Blick geht zurück zu seinem Schirm. Dem Schirm, der die Stimme des Regens laut sein lässt, tosend, abstossend. Langsam lässt er ihn sinken. Der Regen trifft ihn und schon will er sich um entscheiden, doch nass ist er so oder so. Also schliesst er seinen Schirm, legt den Kopf in den Nacken und lauscht den Liebesbotschaften des Himmels.
Sie dreht ihm ihren Kopf zu. Er hat den Schirm geschlossen und schaut dem Himmel entgegen. Innert Sekunden ist er ganz durchnässt. Er hat die Augen geschlossen und lauscht der Erde um sich herum. Er, der seit vielen Jahren an ihrer Seite steht. Sie unterstützt und besser kennt als jeder andere. Doch in letzter Zeit wirke er so weit weg. Sie musste so viel arbeiten. Sie musste ihm immer wieder absagen, bis er schliesslich nicht mehr fragte. Er, den sie schon so lange bewundert, für seine Stärke, seinen Willen, seinen Tatendrang. Aber auch seine Sanftheit und Fürsorge.
Sie lächelt. Jenes Lächeln, dass man nicht unterdrücken kann, das sich heimlich aufs Gesicht schleicht und bleibt. Sie schliesst ihre Augen wieder und streckt sich dem Himmel entgegen. Der Liebe des Vaters.
Schweigen.
In langen Fäden fällt der Regen auf die Erde, er prasselt auf den Teich nieder und lässt diesen Ringe schlagen. Er fällt auf die Wiese nieder, die ihn gierig aufnimmt. Die Wurzeln der Gräser und Blumen saugt ihn auf, nimmt die Liebe auf und braucht sie zum Wachsen. Der Regen fällt auf die Betonstrassen, die Häuser und Autos der Menschen. Alle schauen missmutig drein, nerven sich ab der Unterbrechung des warmen Sonnenscheines. Doch verpassen dadurch die wahre Botschaft des Regens. Die Liebe zu den Menschen zu bringen. Die uralte Liebe zwischen Himmel und Erde. Die uralte Liebe des Vaters für seine Kinder.
Schweigen.
Er öffnet seine Augen und betrachtet sie. Die Ruhe auf ihrem Gesicht, das Lächeln auf ihren Lippen und die Haarsträhne die ihr im Gesicht klebt. Er streckt seine Hand aus und streicht sie ihr hinters Ohr. Sie öffnet leicht die Augen und schielt zu ihm hinüber.
Danke, sagt sie.
Bitte, antwortet er.
Sie betrachten sich. Er ihre geröteten Wangen und die roten Lippen. Sie seine schönen Augen und die dunklen Haare, die ihm in der Stirn kleben. Vorsichtig hebt sie die Hände und streicht ihm das nasse Haar nach hinten. Ihre Hände fahren über sein Haar, hinunter in seinen Nacken, seinem Hals entlang und verharren auf seiner Brust. Er schaut ihr in die Augen und sie schaut zurück.
Schweigen.
Während der Himmel der Erde durch den Regen seine Liebesbotschaften schickt. Während die Menschen sich über den Regen ärgern, ohne seine Bestimmung zu kennen. Während die Erde die Liebe des Himmels aufnimmt. Während all dem, verstehen zwei Menschen, wieso der Regen so wichtig ist. Wieso der Himmel sich so nach der Erde sehnt und die Erde sich nach dem Himmel.
Berührungen brauchen keine Worte. Liebe in ihrer reinsten Form.
Schweigen.
YOU ARE READING
Tohuwabohu
AcakTohuwabohu (hebräisch תהו ובהו tōhū wā-bōhū (aramäisch: ܬܘܗ ܘܒܘܗ) meist übersetzt mit ‚wüst und leer') bezeichnet ein heilloses Durcheinander und wird modernisiert mit „Chaos" übersetzt.