Helfen

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Einige Tage später stehe ich wieder an meinem Arbeitsplatz und reiche einem kleinen Mädchen das Kleingeld, welches sie als Pfand für ihre Schlittschuhe bei mir gelassen hat, als ich den Jungen entdecke, an den ich immer seltener gedacht habe.
Heute war der erste Arbeitstag, an dem ich auf die Uhr geschaut und gehofft habe, dass er nicht kommt, damit ich früher nach Hause kann. Doch ausgerechnet heute kommt er wieder vorbei.

Ich beobachte den Jungen, der dieses Mal deutlich früher hier ist als sonst, und bin erstaunt, als er direkt auf mich zukommt. Er nimmt sich einen der Stühle, die überall in der Halle verteilt stehen, damit sich die Leute ihre Schuhe anziehen können, und zieht ihn mit sich, um ihn vor mir abzustellen und sich zu setzen.

Er holt eine kleine braune Tüte aus seiner Tasche und schaut mich gar nicht an, sondern beginnt damit, das Sandwich in der Tüte zu essen.

Wir beide schweigen und ich senke den Blick auf meine Hände. In meinem Kopf wiederholen sich die Worte des Jungen und sie lassen das Kribbeln in meinem Bauch verschwinden. Sie lassen jeden positiven Gedanken, der mir in den Sinn kommt, wenn ich Manuel anschaue, plötzlich falsch wirken. Trotzdem habe ich das Bedürfnis nach einem Gespräch mit Manuel. Warum sollte er sich hierher setzen, wenn er nicht mit mir reden will? Und ich würde gerne wissen, was passiert ist, nachdem sein Freund ihn gefunden hat.

"Ein Junge war gestern hier", beginne ich also und sorge dafür, dass Manuel seine Taten unterbricht und mich anschaut. "Er hat dich gesucht."
Mein Gegenüber nickt einfach und beißt noch einmal von seinem Essen ab.

"Er hat mich gefunden", antwortet er und hält sich die Hand vor den Mund, da er noch immer kaut.

"Er schien ziemlich... wütend."
Wütend ist eine deutliche Untertreibung.

"Und er war noch wütender, nachdem er mit dir gesprochen hat."
Erstaunt ziehe ich die Augenbrauen in die Höhe, jedoch sollte es keine Überraschung für mich sein. Das, was ich gesagt habe, konnte ziemlich falsch verstanden werden.

"Das... Ich wollte nicht, dass er denkt, wir hätten... Nun ja... Ich hätte das auch bei jedem anderen gesagt, immerhin hat er dich-"

"Es ist schon in Ordnung, Patrick."
Ich schließe meinen Mund und schaue den Jungen vor mir an. Es ist das erste Mal, dass er meinen Namen ausspricht und es sorgt dafür, dass sich eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper bildet.

"Er ist nicht mehr mein Freund", kommt es von Manuel kurz darauf und ich schweige. Hätte ich etwas sagen wollen, wäre mir ein Freudenschrei entflohen und ich hätte all die Glückshormone, die in diesem Moment durch meinen Körper schießen, herausgelassen.

Manuel nimmt den letzten Biss von seinem Sandwich und schmeißt die Tüte bereits in den Müll, bevor er seinen Mund überhaupt geleert hat.

"Ich gehe dann mal auf das Eis", meint Manuel. "Du kannst schon einmal den Krankenwagen rufen"

Amüsiert lache ich über seine Aussage und stütze meine Hände auf der Fläche neben der Kasse ab.
"Du hast es schon einmal geschafft."

"Und wie oft habe ich es nicht geschafft?", fragt er und schaut mich an. Sein Blick scheint schon fast verzweifelt.
Wieder senke ich meinen Blick und schweige einfach, schaue jedoch auf, als Manuel sich mir nähert.

"Kommst du mit? Auf die Bahn?"

"Ich? Was soll ich denn machen?"
Ich schaue mich einmal in der Halle um. Niemand ist hier und ich könnte mit ihm auf das Eis gehen, jedoch würde ich mich vermutlich bis auf die Knochen blamieren. Und mich stark verletzen.

"Mich fangen, wenn ich falle."
Mit großen Augen schaut Manuel mich an und seufzend löse ich mich von der Arbeitsfläche, an welcher ich mich abgestützt habe. Wenn er mich mit diesem Blick anschaut, dann kann ich nicht ablehnen.

Als Manuel hört, dass ich die Musik lauter stelle, schaut er mich an und sobald er sieht, dass ich meine Jacke ausziehe und die kleine Hütte verlasse, schaut er mich mit einem strahlenden Blick an.

Schnell habe ich mir irgendwelche Schuhe angezogen und gemeinsam begeben wir uns auf das Eis, wo Manuel sich vorerst ein wenig dreht, dann jedoch die Motivation verliert und einfach vor mir steht und mit meinen Fingern spielt.
Vollkommen hypnotisiert von seiner Nähe und seinen Berührungen, beobachte ich einfach seine Bewegungen und rühre mich kein Stück. Hätte ich auch nur versucht einen Finger zu heben, wäre ich vermutlich ausgerutscht und hingefallen.

"Wie habt ihr euch kennengelernt?", rutscht mir eine der vielen Fragen heraus, die mir in meinem Kopf herumschwirren.

Manuel antwortet nicht und als er sich von mir löst und zu fahren beginnt, befürchte ich schon, dass ich zu weit gegangen bin und er die Halle verlasst, doch fährt er an dem Ausgang vorbei und dreht sich einmal in der Mitte der Bahn.

Grinsend schaue ich ihm zu und kann seine Freude spüren, als er immer langsamer wird und dann seinen Fuß sicher auf dem Eis absetzt.

Er kommt wieder bei mir an, mit einem Grinsen im Gesicht und beginnt zu erzählen:
"Er war auch oft hier. Es kam mir vor als würde er wie eine Wolke über das Eis schweben und sofort war ich begeistert. Aber er war derjenige, der den ersten Schritt machte. Er war älter und reifer als ich und brachte unangebrachte Sprüche, aber er war mein Schwarm und wirklich verstanden, was er gesagt hat, habe ich auch nicht. Ich war noch sehr unschuldig."

Während seiner Erzählung spielt Manuel wieder mit meinen Händen, führt sie zu sich und in die Position, in der er sie haben will, damit ich ihn halte, solange er sich dreht.

"Wie lange wart ihr zusammen?"

"Drei Jahre. Die erste Zeit war toll. Wir waren richtig verliebt. Und dann veränderte er sich. Ich vermute es lag an seinen neuen Freunden. Du weißt schon. Es waren die, die sich hinter der Schule treffen."

Manuel lässt meine Hände los und fährt ein Stück rückwärts, wendet seinen Blick aber nicht von mir ab. Erst als er die Drehung beginnt, endet unser Blickkontakt. Vorsichtig komme ich ihm näher und er unterbricht die Drehung, indem er seinen Fuß frühzeitig auf das Eis setzt.

"Hat er dich irgendwann einmal verletzt?"
Zaghaft nehme ich seine Hand in meine und mustere sein Gesicht. Sein Ausdruck verrät mir bereits die Antwort, weshalb ich meine andere Hand an seine Wange lege.

"Emotional ständig. Aber körperlich einmal."

"Wie?"
Meine Stimme ist nicht mehr als ein Hauchen und ich kann erkennen wie sich Manuels Haare aufstellen. Ich entferne meine Hände wieder von ihm und gehe einige Zentimeter zurück.

"Ich habe jetzt genug über mich erzählt. Was ist mit dir?", umgeht Manuel das Thema und fährt um mich herum. "Hast du jemanden an deiner Seite?"

"Nein, seit Jahren nicht mehr. Aber mein Freund und ich sind friedlich auseinander gegangen."

Manuel nickt und seufzt.
"Wir haben anscheinend beide kein Glück im Thema Liebe..."

Lachend gehe ich noch einen Schritt zurück, damit Manuel sich drehen kann, doch kommt er wieder ins Schwanken und bevor er fallen kann, halte ich ihn mit meinen Händen. Etwas überrumpelt schaut er mich an, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und muss grinsen.

"... aber wir beide scheinen uns gut helfen zu können."

Lieben Lernen - KürbismaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt