Abschnitt 1: Schmerzhaftes Erwachen

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ES WAREN JAHRE VERGANGEN, seit dem Vorfall. Ich konnte mich noch an den Strick erinnern. Gekratz hatte die Teufelschlinge. Und diese Bastarde hatten mir nicht einmal einen letzten Wunsch gewährt. Lachend hatten sie dem Stuhl, der mich am Leben hielt, weggetreten.

Rabenschwarze Erinnerungen durchströmen mich noch immer. Ich konnte den stinkenden Rauch riechen, die Zigarren, die sie sich wie zu einem feierlichen Anlass angesteckt hatten.

Dunkelheit umgab mich. Ich wusste nicht, wie lange ich so im Nichts trieb. Tage. Wochen. Monate. Jahre. Bis ich unsanft aus dieser finsteren Trance erwachte.

Eines erst einmal vorweg: Das alles wäre niemals passiert, wenn man mich anständig begraben hätte. Aber diese unterbemittelten Säufer hatten es noch nicht einmal fertiggebracht, mir ein einigermaßen akzeptables Grab zu schaufeln. Offenbar hatten sie mich lediglich tief in einem Wald abgeladen und hastig etwas Unrat auf meinen leblosen Körper geschüttet. So war es für den zuständigen Förster ein leichtes, mich auf der kahlen Lichtung zwischen einigen schimmelnden Baumstümpfen zu entdecken. Wobei er ohne die Hilfe seines vollgefressenen Hundes wohl nie meine sterblichen Überreste hätte bergen können.

Könnt ihr euch vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn man sich gerade mit seinem Schicksal abgefunden hat und in eben diesem Moment von einem tattrigen, sturzbetrunkenen Förster und dessen nach billigem Hundefutter stinkenden Pudel gefunden wird? Ich kochte vor unbändiger Wut. Es dürfte niemanden wundern, dass ich dem Greis den knittrigen Hals umdrehen wollte. Doch dieser Wisky schwingende Vollidiot hatte mehr Glück als Verstand. In zweierlei Hinsicht: Erstens hatte er eine alte Schrotflinte auf meine reglosen Überreste gerichtet, die aus einem seltsamen Metall bestand, auf dem sich silberne Verzierungen ringelten. Und zum Zweiten wusste ich nicht im geringsten, wie ich mich materialisieren konnte.

Was meint ihr, hätte jeder normale Mensch im Gegensatz zu diesem verkorksten Wildhüter getan? Jeder andere hätte das Weite gesucht und in sicherer Entfernung Scotland Yard angerufen. Nicht so der bedenklich in jede Richtung schwankende Förster: Er sah mit verschwommenen Blick auf meine bleichen Knochen hinab und zündete sich erst einmal ein Pfeichen an. Allein das dauerte schon minimal zwanzig volle Minuten, in denen raue Mengen Tabak verschüttet und einige Zündhölzer Marke "Burned" lallend verbraucht wurden.

Dann paffte er kurz etwas Rauch im betrunkenen Stil und führte ein einseitiges Gespräch mit seinem Mistvieh. Bis er überhaupt auf die Idee kam, sich wieder meiner Wenigkeit zu widmen, vergingen einige Minuten, mit in der Tonlage wechselnden Grunzlauten seinerseits gefüllt, die für seinen Hund vielleicht irgendeinen tieferen Sinn ergaben. Dann bekam sein Gesicht eine leicht nach-denkliche Note, die mir seltsam fehl am Platz erschien. Er wankte einen Schritt auf mich zu, bückte sich schwerfällig und packte meinen Schädel. Er hob ihn auf und drehte ihn. Dann hustete er, wobei mir eine beachtliche Schnapsfahne entgegen-schlug. Er nahm meinen Kopf einfach mit. Sein Problem, dass ich an meinem Schädel hing. Wie an unsichtbaren Fäden wurde ich mit hinter meinem bleichen Körperteil hergezogen. Leider baumelte mein Kopf nun direkt neben seiner Flinte. Die Silberaura raubte mir beinahe den Verstand.

'Glaub mir', dachte mein Geist, der sich in glühenden Zorn einhüllte. 'Das werde ich dir heimzahlen. Sobald die Siberstarre von mir fällt, werde ich dir mit deinem lächerlichen Pudel den Rand stopfen.'

Ghosts  (Lockwood & Co FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt