2. »𝔰𝔠𝔥𝔲̈𝔰𝔰𝔢«

25 3 7
                                    

Als ich aufstehe, bin ich mal wieder alleine mit Lennox zu Hause. Auf dem Tisch finde ich einen Zettel von meiner Mom. Sie hinterlässt mir normalerweise nie Zettel, wendern weckt sie mich kurz, sagt es mir und lässt mich dann weiter schlafen.

Neugierig nehme ich den Zettel. Es muss ja irgendwas passiert sein, sonst wäre ja alles wie immer.

"An Annik:
Guten Morgen meine Maus"

Meine Augenbrauen krümmen sich. Sie hat mich noch nie "Maus" genannt. Ich fange an zu lesen.

"Daddy und ich haben gestern Abend einen Anruf erhalten. Es ist ein familiäres Thema. Falls ein Mann an der Haustür klingelt, macht NICHT auf. Egal, wie lange er wartet oder vor der Haustür steht. Bleibt zu Hause. Das ist eine Anweisung. Keine Bitte.
Daddy und ich kommen so schnell wie möglich wieder nach Hause.
Macht euch etwas zu essen und kümmert euch um eure Hausaufgaben. Bitte sage Lennox, er soll sich um seine Französischhausaufgaben kümmern. Seine Lehrerin hat mir eine Email geschrieben.
Wir lieben euch ♡︎
𝑀𝑜𝑚 & 𝐷𝑎𝑑 "

Das wars. Kein Ort. Keine vernünftige Begründung, warum sie weg sind. Und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas passiert ist. Klar. Mom kam mit den Hausaufgaben von Lennox an. Sie hängt TOTAL hinter unserer Schulbildung. Aber der Text klang ziemlich eindeutig... Ich drehe den Zettel um. Vielleicht steht ja noch etwas auf der Rückseite, ein 'Ps:...' oder so, aber da ist nichts. Nur das Logo von einem Schornsteinfeger. Wahrscheinlich war der Zettel von einem dieser Werbekampagnen die meine Mom für andere Leute plant.

Ich höre Lennox die Treppe herunter trampeln. Er kommt in die Küche getrapelt und guckt mich mit seinen großen grünen Augen an.

"Was ist los?", fragt er und guckt mich schräg an.

Kein 'Guten Morgen' oder wenigstens ein 'Hallo'. Typisch er. Immer direkt ansprechen.

Ich gebe ihn dem Brief.

Er ließt ihn durch, wirft ihn über seine Schulter und schlurft zum Apothekerschrank. Ich kann ihn nur dämlich angucken.

"Kein Kommentar?"

Normalerweise gibt er zu jeder noch so kleinen Sache seinen Senf dazu.

"Nö.", erwiedert er. Irgendwie kümmert es ihn gar nicht.

Er wühlt im Schrank rum, holt Cornflakes heraus und drückt sie  mir in die Hand.

"Mach mir essen."

Ich gucke ihn genervt an. Das kann er selber. Aber dann guckt er mich mit seinen großen Kulleraugen an.
"Bitteeeeeeee"

Na gut. Er hat es wieder mal geschafft, er mit seinem komischen Charme. Aber leider weiß er, dass er alles von mir kriegt. Er ist mein kleiner Engel.

Zwei Minuten später essen wir. Es ist ganz still, irgendwie gruselig. Also mache ich das Radio an.

Als Lennox fertig gemampft hat (ja, gemampft), sage ich ihm, er soll jetzt Französisch machen. Mit seiner Ausrede es sei Wochenende kommt er nicht weit und geht wieder hoch in sein Zimmer. Ich weiß, dass er sich nicht an seinen Schreibtisch setzten wird. Das macht er fast nie. Er ist einer dieser Menschen, der nie was in der Schule macht, aber immer mit allem durchkommt.

Da ich nichts zu tun habe, fange ich an aufzuräumen. Das Radio dröhnt und ich singe laut mit, damit ich nicht die ganze Zeit an den Zettel denken muss.

Nach einer Weile höre ich draußen plötzlich ein Auto. Es ist unverkennbar, der Motor ist getuned. Sowas können sich nur Leute leisten, die sehr gut verdienen.
Ich ducke mich hinter die Spüle, um nicht gesehen zu werden. Ich glaube, man kann mein Herz pochen hören, so wild ist es. Mein Atem wird schneller und ich kriege ein mulmiges Gefühl... Vielleicht ist das der Mann, den Mom gemeint hat? Die Spüle steht vor dem Küchenfenster, welches auf die Straße zeigt. Also kann ich kurz nach oben über die Spülkante schielen. Ich kann nicht viel erkennen, weil der Fensterrahmen einen Teil bedeckt, aber auf jeden Fall hat ein  Sportwagen gegenüber auf der Straßenseite geparkt. Der Wagen ist schwarz, aber leider kann ich das Kennzeichen  nicht entziffern. Mist! 

Dann ist es plötzlich still.
Die Person im Auto hat den Motor ausgestellt.

Ich höre wie ich ausatme. Ich habe gar  nicht bemerkt wie ich die Luft angehalten habe. Ich bekomme eine Gänsehaut. Vorsichtig spähe ich noch einmal über die Kante auf die Straße. Nichts. Der Mann sitzt immer noch im Wagen. Er steigt auch nicht aus, sondern sitzt einfach nur im Auto. Ich kann nur seine Sillhoutte ausmachen, es ist zu weit weg. Ich warte geduckt darauf, dass irgendetwas passiert. 

Ich warte.
Und warte.
Und warte.

Nach kurzer Zeit  steht Lennox plötzlich hinter mir. Ich habe ihn erst gar nicht bemerkt, aber er schaut mich ganz verängstigt an. Auf seiner Stirn kann ich kleine Schweißperlen sehen. 

"Hey, was ist los?", frage ich ihn besorgt. Normalerweise nimmt er selbst Horrorfilme gelassen.

Dann hebt er plötzlich den Arm und zeigt auf die Straße. Wie von Blitz getroffen reiß ich ihn runter und ziehe Lennox zu mir hinter die Spüle. 

Dann passiert alles auf einmal: Der Mann sieht uns, springt aus seinem Wagen, zückt eine Waffe und eine Kugel fliegt durch das Fenster. Es ist ein ohrenbetäubender Lärm. Lennox schreit auf.
Überall liegen Scherben. Glassplitter. Ich fühle mich wie in einem Horrorfilm. Höre mich schluchzen. Ich weiß nur, dass wir weg müssen. Sofort!
Der Mann hat nicht ohne Grund eine Waffe. 
Also ziehe ich Lennox hoch und renne. Durch die Gartentür, in  den Garten und weiter. Alles geschieht in Trance. Ich weiß nicht was ich tue. Lennox stolpert hinter mir her, wir rennen.

Ich atme schwer, hinter mir fängt Lennox an zu röcheln. Ich höre auf zu  rennen und drehe mich zu ihm um. Ich sehe die Angst in seinen Augen, wie sie in seinen kleinen, unschuldigen Augen blitzt. Tränen laufen ihm über die Wange. Seine Hand liegt an seinem Hals. Blut verschmiert. 
Was ist passiert? 

Ich höre nichts. Nur Stille. Und das schwere Atmen von Lennox und mir. Eine Weile geht es so. Dann fragt Lennox in die Stille hinein: "Sollen wir wieder zurück?" In seiner Stimme kann ich den Schmerz hören. Er blutet. Ich schaue genauer hin. Sein Hals Blutet. Seine Halsschlagader? Auf jeden Fall hat ihn irgendwas am Hals getroffen. Shit!
Warum have ich in Bio nicht mehr aufgepasst!?
Panik kommt in mir auf. Es blutet wie wild und man merkt wie schwach Lennox durch seine Verletzung geworden ist. Es muss durch einen der Glassplitter passiert sein, die von der zerbrochen Scheibe. Von dem Schuss. Lennox huckt mich  panisch an. "Es tut weh.", kriegt er röcheld hervor. Ich weiß. Man sieht es ihm an. Wir müssen irgendwie weiter. Er braucht einen Arzt. Sonst verblutet er. Und zwar in den nächsten zehn Minuten. Schnell!
Ich überlege, aber ich höre nur meinen Herz klopfen. Wie es pocht. Wild. Vor Angst. Ich könnte meinen Bruder verlieren! Irgendwas muss ich tun. Er braucht mich jetzt.

Mein Gdhirn rattert. Es schießt mir so viel durch den Kopf: warum hat der Mann das getan? Was ist mit Lennox? Wo sind Mom und Dad? Wer war er? Und vor allem, warum wollte er uns töten?
Ich meine, wenn er uns nicht töten will, warum hat er denn sonst bitte geschossen???
Ich kann nicht klar denken. Ich habe so Angst. Ich merke nicht wie Lennox mich antippt. In dem ganzen Wahn bin ich sehen geblieben. Ich gucke ihn an.

"Handy klin - ",bringt er herraus.

Stimmt. Es klingelt. Der nervige Piepston brennt sich in meine Ohren. Es sind bestimmt unsere Eltern.

Ich nehme es aus meiner Hosentasche und gucke auf's Display. Es ist Yasmen. Ich atme auf.

"Yasmen." Ich weine fast vor Erleichterung.

"Wo bist du?"

"Heute Abend, 20 Uhr, Callias Bar. Alleine. Sonst werdet ihr die Kleine hier nicht so schnell wieder sehen." Ein böses Lachen erklingt. Im Hintergrund höre ich ein Mädchen schreien.

Yasmen.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Das kann nicht sein.
Tränen laufen mir übers Gesicht. Es ist wie in eindm Albtraum. Nur in der Realität.

Plötzlich bricht Lennox neben mir zusammen auf den Boden.

Shadows of our reality - Als wir noch wussten wer wir sindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt