1. Kapitel

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Es war einmal vor langer, langer Zeit. Da lebte eine junge Frau namens Emma zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Hannes und ihrer Mutter Magarete in einem Dorf. Der Vater war vor einigen Jahren verstorben, und so mussten alle mitanpacken, um die hungrigen Mäuler zu stopfen und genug Holz für die langen kalten Wintermonate zu beschaffen. Doch trotz der schwierigen Umstände waren sie zufrieden, denn sie waren einander in inniger Liebe verbunden und besaßen immerhin ein Schaf, das für ein wenig Wolle und Milch sorgte.

Emma war eine sanftmütige junge Frau, die seit einiger Zeit das Interesse der Männer im Dorf weckte. Ihr blondes Haar fiel in leichten Wellen bis zur Mitte ihres Rückens und leuchtete im Sonnenlicht wie gesponnenes Gold, wenn sie es denn einmal offen trug. Das tat sie selten, denn die Tradition wollte, dass sie es unter einem sittsamen weißen Häubchen verbarg.

Nun begab es sich, dass der Sohn des Schmieds, ein ungestümer Mann, der nur wenige Jahre älter war als sie selbst, um Emmas Hand anhielt. Sie fühlte sich geschmeichelt, denn sie mochte Gerald, sodass sie der Ehe mit ihm hoffnungsvoll entgegenblickte. Da ihre Familie arm war, würde der Bund mit dem Schmied dafür sorgen, dass Hannes und die Mutter hiernach nicht mehr Hunger leiden mussten. Heimlich sehnte sich Emma zwar nach der großen Liebe, doch sie war zuversichtlich, dass sie für ihren zukünftigen Ehegatten bald derartige Gefühle entwickelte. Das Überleben ihrer Familie war für sie wichtiger als ihr eigenes Glück. Selbst wenn Gerald niemals ihre große Liebe würde, hoffte sie doch, dass sie ihm gesunde Söhne und Töchter schenkte, die sie glücklich machten.

Nur noch zwei Wochen, dann ist es soweit, dachte sie und träumte sich in diese Zukunft hinein. Zwar hatte Emma als Ehefrau auch viele Pflichten, doch diese würde sie schon meistern. Ihre angehende Schwiegermutter Grete schien recht umgänglich und brachte ihr schon jetzt allerlei bei, was sie später benötigen würde. Einzig vor dem alten Schmied, einem mürrischen, verschlossenen Mann mit breiter Statur und lichter werdendem dunklen Haar, fürchtete Emma sich ein wenig. Man munkelte, dass er nicht nur mit dem Hammer kräftig zuschlagen konnte und ein reizbarer Zeitgenosse war. Allerdings hatte Emma derlei nie mit eigenen Augen gesehen und war daher nicht gewillt, sich von den Gerüchten verunsichern zu lassen. In den ersten Jahren würden sie und Gerald ebenfalls in der Hütte seiner Eltern wohnen, bis sie genug Geld hatten, um eine eigene zu bauen. Das war üblich, auch wenn es Emma vor allem wegen der anstehenden . Schließlich wurde immer gesagt, dass sie kein Mann außer ihrem Gatten unbekleidet und mit offenem Haar erblicken durfte. Wie sie sich in Geralds Heim züchtig verhalten und gleichzeitig seine Bedürfnisse befriedigen sollte, war ihr ein Rätsel. Generell fürchtete sie sich ein wenig vor diesen ‚ehelichen Pflichten'. Ihre eigene Mutter hatte ihr zwar erklärt, dass der Beischlaf auch angenehm sein konnte, doch andere Frauen wisperten hinter hervorgehaltener Hand immer wieder schreckliche Dinge. Zudem verstörte Emma der Brauch, dass zum Beweis ihrer Unschuld am Morgen nach der Hochzeit ein blutiges Laken vorgezeigt werden musste. Was, wenn nicht genug Blut darauf war? Oder die Vereinigung so schmerzhaft ist, dass ich sie nie wieder erleben möchte? Emma wusste, dass sie Gerald als gutes Eheweib trotzdem zur Verfügung stehen musste, deshalb hoffte sie, dass dieser Teil ihrer Verbindung erträglich und fruchtbar werden würde.

Da sie nun offiziell verlobt waren, suchte Gerald sie in den letzten Wochen immer öfter auf, um sie in seine Arme zu reißen und ihr den einen oder anderen zumeist keuschen Kuss zu stehlen. Diese waren meist angenehm, wie Emma sich eingestehen musste, und ließen ihren Leib leicht prickeln. Das eine oder andere Mal hatte ihr Verlobter auch versucht, sie zu überreden, ihre Röcke für ihn zu heben. Da sie ohnehin bald heiraten würden, sei dies keine Sünde mehr, behauptete er. Doch Emma hatte sich stets geweigert und Gerald musste sich fügen, auch wenn ihm das offensichtlich nicht gefiel. Ihre Jungfräulichkeit war mehr oder minder ihre Mitgift. Sie vorher zu verschenken, wäre nicht rechtens.

Im Licht des Vollmondes - MärchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt