Emma wartete, bis er außer Sichtweite war, dann hielt sie es nicht mehr aus. Wie ein kleines Kind rollte sie sich zusammen und schluchzte herzzerreißend. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie fühlte sich geschändet und beschmutzt. Der eben noch so schöne, friedliche Tag war von einem Moment zum nächsten zu einem Albtraum verkommen. Wird mein Leben von nun an immer so sein oder vielleicht sogar noch schlimmer werden? Nachdem Gerald sich derart an ihr vergangen hatte, fürchtete sie sich umso mehr, in einem Haus mit seinem Vater zu wohnen. Nun glaubte sie an die Gerüchte, die sich um den Schmied rankten. Oder war damit sogar Gerald gemeint? Mit Schrecken fielen ihr auch ein paar Gelegenheiten ein, bei denen der ältere Mann sie lüstern gemustert hatte. Wenn sein Sohn und er sich ähnelten, dann wäre Emma wohl nie wieder sicher. Was soll ich nur tun?! Sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie so ein Leben schnell zu Grunde richten würde. Doch was habe ich für eine Wahl? Emmas Jungfräulichkeit war verloren und damit würde kein ehrbarer Mann sie mehr ehelichen wollen. Mutter und Hannes waren zudem auf den bescheidenen Wohlstand angewiesen, den die Ehe mit sich bringen würde. Ich kann sie doch nicht einfach im Stich lassen! Selbst wenn sie sich gegen diese Verbindung entschied, würde es ihren Untergang bedeuten. Nachdem Gerald sein wahres Gesicht gezeigt hatte, zweifelte Emma keine Sekunde daran, dass er alles tun würde, um ihr das Leben zur Hölle zu machen. Was, wenn er mich der Hexerei beschuldigt oder behauptet, ich wäre keine Jungfrau mehr gewesen? Sie konnte unmöglich das Gegenteil beweisen und ihre Familie wäre gleichsam in Gefahr.
Das kann ich nicht zulassen! Mühsam kämpfte Emma sich hoch und versuchte, ihre Kleidung zu richten. Es überraschte sie kaum, dass die Schnürung ihres Oberteils Schaden genommen hatte. Einige Schlaufen waren ausgerissen und auch ihr Unterkleid war beschädigt, aber mit etwas Geduld würde sie alles reparieren können. Von ihrem geschändeten Leib konnte sie das jedoch nicht behaupten. Es pochte und brannte zwischen ihren Schenkeln. Als sie aufstand, um sich im Bach zu waschen, lief etwas warm an ihrem Oberschenkel herunter. Schnell schlüpfte sie aus ihren Schuhen und raffte die Röcke, damit sie nicht beschmutzt wurden. Emma betete, dass nicht alles Blut war, was sie spürte. Einerseits hoffte sie, dass der Samen, den Gerald in ihr vergossen hatte, schnell Früchte tragen würde, damit er sie in Frieden ließ, andererseits fürchtete sie genau das. Falls er sich doch von ihr lossagte, wäre sie gezwungen, ein uneheliches Kind auszutragen und müsste mit dieser Schande leben. Natürlich würde ihr niemand glauben, dass ihr Verlobter sich an ihr vergangen hatte. Frauen galten als schwach und anfällig für die Sünde
Vorsichtig tauchte sie einen Fuß in das kalte Wasser des Bächleins. Es fühlte sich an, als würde sie barfuß im Schnee stehen, doch Emma begrüßte die eisige Kälte. Diese würde den Schmerz zumindest für eine Weile betäuben. Sie hockte sich ins Wasser und wusch sich so gründlich wie möglich. Von ganzem Herzen hoffte sie, dass sie Gerald bis zur Hochzeit entgehen und sich erholen konnte.
Kann ich das Geschehene vor Mutter verbergen?, fragte sie sich bang. Ihre Mutter wäre außer sich vor Wut, wenn sie von den Geschehnissen /erfahren würde. Magarete war ohnehin nicht von dieser Ehe überzeugt und würde alles in ihrer Macht stehende tun, um ihre Tochter vor weiterem Schaden zu bewahren. Doch zu welchem Preis?
Während Emma sich wusch, überlegte sie, welche Wahl sie überhaupt hatte. Gerald ehelichen und fortan in der Hölle auf Erden leben? Die Hochzeit absagen und als Hure oder Hexe denunziert werden? Oder mit meiner Familie in eine ungewisse Zukunft fliehen? Keine dieser Möglichkeiten war dazu angetan, ihre Verzweiflung zu lindern. Sie blickte zum Wald.
„Was, wenn ich einfach versc murmelte sie, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. So sehr sie sich vor der Zukunft fürchtete, willentlich wollte sie nicht in den Tod gehen.
Als ihre Zähne zu klappern begannen, stieg Emma aus dem Bächlein und trocknete sich notdürftig ab. Zwar schmerzte ihr Leib noch immer, aber wenn sie krank wurde, würde das niemandem helfen. Ein leises Blöken drang an ihr Ohr. Entsetzt erkannte sie, dass sie durch Geralds vergessen hatte, Molli umzupflocken. Das arme Tier stand nun schon seit geraumer Zeit an derselben Stelle und musste Hunger leiden, weil Emma nicht aufgepasst hatte. Schnell lief sie zum Schaf und streichelte es beruhigend. Tatsächlich hatte es alles in Reichweite gefressen und streckte den Hals, um an mehr Futter zu gelangen.
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Im Licht des Vollmondes - Märchen
WilkołakiEin Lamm, ein Sturz und eine verhängnisvolle Begegnung Um das Überleben ihrer Familie zu sichern, ist Emma gerne bereit, ihr persönliches Glück zu opfern und den Sohn des Schmieds zu heiraten. Allerdings steht die Ehe unter keinem guten Stern, denn...