Schnüffelnd hielt der große schwarze Wolf seine Schnauze in den Wind. Der Vollmond stand am Himmel und sein Jagdtrieb war erwacht. Normalerweise bevorzugte er gekochtes Fleisch, doch in jeder ersten Vollmondnacht war das Tier in ihm stärker, und das scheute weder Blut noch Fell. Ganz im Gegenteil: Nach erfolgreicher Hatz genoss es der Wolf, dem letzten angstvollen Quieken seiner Beute zu lauschen und die Knochen knacken zu hören, wenn er sein Opfer dann verschlang. Nach solchen Nächten wachte er meist schmutzig und blutverschmiert auf, doch Finneus hatte sich daran gewöhnt und verachtete sich nicht mehr dafür. Er war ein Aussätziger, den ohnehin nie jemand zu Gesicht bekam. Ein Monster, unwürdig unter den Menschen zu leben, wie er als Knabe schmerzvoll erfahren musste. Jagd hatten sie auf ihn gemacht, ihn mit Fackeln, Speeren und Musketen drangsaliert, bis kaum noch Leben in ihm gewesen war. Mit letzter Kraft hatte er sich damals tief in den Wald geschleppt, wo kein Mensch sich jemals hinwagte. Dort hatte er auf dem feuchten Moos gelegen und blutend seinem Ende entgegengesehen. Doch seine Wunden waren verheilt und die Instinkte des Wolfes hatten übernommen. Seitdem war der Wald sein Zuhause. Er hatte sich eine kleine Hütte gebaut und gelernt, alleine zurechtzukommen. Mit den Jahren verschwand auch die Sehnsucht nach Mutter und Schwester, die die verhängnisvolle Nacht seiner ersten Verwandlung nicht überlebt hatten. Der wütende Mob hatte ihre kleine Hütte angezündet und johlend den Schreien der beiden Frauen gelauscht, die darin eingesperrt waren. Finneus selbst hatte dabei zusehen müssen, wie alles verbrannte, was er jemals geliebt hatte.
Das war nun zwanzig Jahre her. Der Schmerz war verblasst, doch der Hass auf die Menschen brannte noch immer tief in ihm. Sie mieden den Wald, aber wenn sich doch einmal eine unglückliche Seele dorthin verirrte, machte er Jagd auf sie, so wie sie es damals bei ihm getan hatten. Nur selten ließ er Gnade walten. Ihm war sie schließlich auch verwehrt geblieben, obwohl er kaum mehr als ein Knabe gewesen war, und nicht wusste, was mit ihm los war. Nachdem er seine Familie verloren hatte, war das hier ansässige Rudel zu einer Art Ersatzfamilie geworden. Glücklicherweise hatte das damalige Leitwolfpaar Mitleid mit dem verstörten Jungen und duldete ihn in ihrer Nähe. Sie spürten, dass er weder Wolf noch Mensch, sondern eine Mischung aus beidem war. Auf diese Weise erfuhr er Zuneigung und vereinsamte nicht vollkommen. Die Wölfe, die nun durch den Forst streiften, waren Nachkommen dieses Paares. Finneus hatte sie aufwachsen sehen, was für eine noch engere Verbindung zwischen ihnen gesorgt hatte.
Nun jedoch witterte er etwas Ungewöhnliches, denn ihm stieg der Geruch einer jungen Frau und eines Schafes in die Nase. Was die beiden so tief im Wald zu suchen hatten, war ihm ein Rätsel. Neugierig und mit einer gewissen Vorfreude, machte er sich an die Verfolgung der Spur. Was er tun würde, sobald er seine Beute aufgespürt hatte, würde sich zeigen. Behände folgte er ihrem Duft, der stark von Angst durchtränkt war. Vor irgendetwas oder jemandem musste sie geflohen sein.
Schließlich hielt er an einem Abhang. Die kleine Schlucht war ihm wohlbekannt. Oft genug stürzte ein Tier hinein – leichte Beute für ihn. Nun hatte es wohl die Menschenfrau erwischt, was ihn mit einer gewissen Schadenfreude erfüllte. In dieser Dunkelheit würde sie ihm niemals entkommen. Überlebt hatte sie den Sturz, denn er konnte ihren viel zu schnellen Herzschlag und ihr leises Schluchzen deutlich wahrnehmen. Mit einem Satz sprang er in die Tiefe und hob den Kopf, um zu heulen. Außer ihm streiften auch die normalen Wölfe durch den Wald. Manchmal gingen sie gemeinsam auf die Jagd, aber heute wollte er nicht teilen. Mit dem Geheul sagte er, dass Frau und Schaf seine Beute waren. Das erschrockene Keuchen der Menschenfrau war Musik in seinen Ohren. Langsam schlich Finneus näher, bis er sie schließlich hinter einem kleinen Felsvorsprung entdeckte. Er witterte Blut und den Geruch eines anderen Mannes, doch über allem lag der vertraute Duft der Angst.
Als erstes fiel ihm das zappelnde Lämmchen in ihren Armen auf. Sie hatte es fest an ihre Brust gedrückt und hielt dem Tier die Schnauze zu, damit es sie nicht mit seinem ängstlichen Blöken verraten konnte. Zu spät, dachte er gehässig und näherte sich ihnen. Frau und Lamm musterten ihn mit weitaufgerissenen Augen.
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Im Licht des Vollmondes - Märchen
WerewolfEin Lamm, ein Sturz und eine verhängnisvolle Begegnung Um das Überleben ihrer Familie zu sichern, ist Emma gerne bereit, ihr persönliches Glück zu opfern und den Sohn des Schmieds zu heiraten. Allerdings steht die Ehe unter keinem guten Stern, denn...