Kapitel 9
Als wir dann endlich an seinem Haus waren, nahm Taddl die Schlüssel aus seiner Schultasche und öffnete die Tür.
"Ladies first.", sagte er und verbeugte sich bis zum Boden. Ich kicherte ein wenig und trat in die Wohnung ein.
Das Erste, was ich sah, war ein kleiner Eingang, der rechts an der Wand eine Komode hatte, die mit Jacken und Schuhen gefüllt war. Rechts neben der Komode war ein kleiner Tisch auf dem eine spiegelnde Schale drauf lag, in dem sich Schlüssel aller Art befanden. Gegenüber der Komode wurden Bilder von Taddl, einem älteren Mann, der Taddl sehr ähnelte und höchstwahrscheinlich sein Vater ist, Wiebke und Maddin aufgehangen. In all' diesen Bildern sahen sie sehr glücklich aus und strahlten von einem Ohr aufs andere.
Das Einzige, was mich stutzig machte ist, dass auf keinen dieser Bilder eine Mutter zu sehen war. Ich runzelte meine Stirn und wunderte mich, was mit ihr passiert sein könnte.
Taddl stand hinter mir und umarmte mich von hinten. Er küsste meinen Hinterkopf und legte seinen Kinn auf meine Kopfhaare. Ich umarmte seine Arme und genoss die Geborgenheit, die mit seinen Armen kam.
Nach einer gewissen Zeit, merkte wie etwas Nasses auf meine Kopfhaare kam. Ich runzelte wieder meine Stirn und dachte kurz nach, was das sein könnte.
Taddl weinte.
Ich löste mich von seiner Umarmung und drehte mich um. Taddl versuchte so schnell wie möglich seine Tränen zu wischen, doch ich hielt ihn auf.
Ich sah ihm in seine Augen und umarmte ihn fester als ich je zuvor jemanden umarmt habe. Er erwiederte meine Umarmung und weinte dieses Mal heftiger. Schluchzend, mit einem dicken Kloß im Hals und tomatenroten Augäpfeln sah er mich entschuldigend an.
"Taddl..." Ich wollte den Satz zu Ende sprechen, doch er unterbrach mich mit einem weiteren Schluchzen, das tief aus seiner Seele kam. Ich konnte nur vermuten, dass etwas sehr Schreckliches mit seiner Mutter passiert ist.
"Danke, Violetta.", sagte er und umarmte mich ein weiteres Mal. Ich umarmte ihn mit der gleichen festen Umarmung zurück. Als wir uns lösten, gingen wir hoch in sein Zimmer.
Sein Zimmer war in ein tiefes Blau und Violett aufgeteilt. Sein Bett war in der linken Ecke. Neben seinem Bett war ein Nachttisch, auf dem ein Wecker und Bild lagen. In der rechten Ecke stand sein Schreibtisch mitsamt einer Nachttischlampe und einem Laptop. Schön aufgeräumt, sah sein Zimmer sehr gut aus. Mit der Ausnahme, dass sein Zimmer eine traurige Aura hatte, war alles sehr einladend. Die Wände waren mit Taddls Zeichnungen voll bemalt. Auf einigen dieser Zeichnungen waren eine Frau zu erkennen, die entweder Wiebke oder seine Mutter darstellen könnten, da sie blonde Haare hatte. Ich wusste es nicht, aber ich konnte nur vermuten.
Taddl saß auf seinem Bett und sah dabei sehr verletzlich aus. Seine Schultern hingen nach innen, seine Haltung war verschlossen und sein Kopf hing nach unten.
Er sah sehr traurig aus. Ich vermisste sein Lächeln in diesem Moment wirklich sehr.
"Vor einem Jahr war ich in diesem Zimmer, nichtsahnend saß ich auf meinem Schreibtischstuhl und schnitt ein Video für unseren YouTube-Kanal.", begann er zu erzählen, doch ich unterbrach ihn.
"Taddl, du musst es mir nicht sagen. Ich kann warten." ´, sagte ich und saß mich neben ihm hin.
"Ich lachte über unseren wirklich sehr gut gelungenen Dreh.", sagte er weiter, als ob er mich nicht gehört hatte, "Ich hörte dann das Telefon klingen und schrie meinem Vater, der unten im Wohnzimmer war und sich die Spätnachrichten ansah, dass er den Telefonhörer abnehmen solle. Er hatte es abgenommen, ohne zurück zu schreien, dass ich es machen solle, weil er ja gerade die Nachrichten ansehen würde. Das war das erste Mal, das er selbst den Hörer abnahm. Das war aber auch das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hab', dass er den Telefonhörer abnahm.
"Nach einer Weile vergas ich, dass es einen Anruf gab. Ich schnitt weiter und lachte immer noch herzhaft über den Dreh. Als ich dann um Mitternacht das Zimmer verließ, um ein wenig etwas zu Essen zu holen, weil ich schon halb verhungert war, erinnerte ich mich an den Anruf. Ich schrie meinem Vater von der Küche aus zu, was bei dem Anruf war. Doch es kam keine Antwort. Ich dachte, dass er mich vielleicht nicht gehört hatte. Ich lief also in das Wohnzimmer und Vodka, Whisky und Rotwein leer auf unserem Wohnzimmertisch liegen.
"Ich wusste, dass diese Kombination keine gesunde Kombination sein kann und rannte zu meinem Vater hin. Ich sah nach seinem Puls, aber dieser war sehr schwach. Ich versuchte ihn aufzuwecken, doch ohne Erfolg." An diesem Moment sah ich erneut Tränen auf sein Gesicht fallen. "Ich rief den Krankenwagen an und sie brachten ihn schnell zum Krankenhaus. Ich wartete außerhalb des OP-Zimmers und hoffte, dass mein Vater überlebte. Währenddessen fragte ich mich, warum meine Mutter nicht da war. Sie hatte bestimmt einen Anruf bekommen, also warum war sie nicht da? Wenn ich damals gewusst hätte, was dieser Anruf bedeutete.
"Ich wartete zwei bis vier Stunden lang. Als der Arzt dann kam, fragte ich ihm wie es meinem Vater nun ging. Er sagte, dass, wenn ich nicht schnell reagiert hätte, wäre er dann höchstwahrscheinlich auch weg. Ich fragte ihn, was er mit 'auch' meinte. Er realisierte, dass er ein Wort zu viel geredet hatte. Er sagte 'Ihrem Vater geht es gut, aber...' und er musste nicht einmal seinen Satz zu Ende bringen. 'Hatte sie auch eine Alkoholvergiftung?' fragte ich ihn. Er sagte 'Nein, aber sie hatte Selbstmord versucht und war dabei erfolgreich.' Ich fragte ihn, woher er das wisse. Er sagte, dass ein anonymer Menschen eine Frau mit einem Abschiedsbrief und einem Foto von ihr mitbrachte und wissen wollte, ob man sie noch retten könne. Er sagte, dass es ihm Leid tue.
"Da ist ein Teil von mir zerbrochen. Ein sehr großer Teil. Ich konnte fühlen, wie meine Seele riss und wie dieser gerissene Teil sich von mir löste. Ich fragte nach, ob sie den Abschiedsbrief hätten. Er gab ihn mir und ich las es mit Tränen in den Augen. SIe schrieb den Brief an mich. Dort stand, dass sie bei ihrer Arbeit jeden Tag gemobbt worden ist und diesen Druck nicht mehr aushalten könne. Sie schrieb, dass ich mich niemals von anderen fertig machen lassen solle, egal was komme.
"Weißt du jetzt warum, ich es nicht zugelassen habe, dass sie dich so behandeln wie Dreck? Weil ich nicht wollte, dass du suizid wirst. Ich wollte, dass du eine schöne Zeit hast. Ich wollte, dass du - auch wenn viele negativen Dinge passiert sind - diese mit den positiven auswiegen kannst. Und nur an die positiven DInge denkst. Ich wollte nicht, dass dein Schicksal dessen meiner Mutter ähnelt. Ich hätte diesen Gedanken nicht ertragen können.
"Es gibt Leute da draußen, die dir zuhören, die deine Präsens nicht als abstoßend empfinden, die gerne in deiner Gesellschaft sind. Die Vergangenheit und Präsens mag für viele Leute sehr verletzend sein, aber die Zukunft kann so viel schöner sein, wenn man die negative Energie nicht an sich heranlässt. Positiv denken ist wirklich der Schlüssel zur Glücklichkeit. Viele wollen es nicht wahrhaben, aber egal was einem passiert, lässt es in der Vergangenheit und genießt die Gegenwart. Jeder noch so kleine positive Moment bereichert das Leben. Das Leben ist erst dann einzigartig und wunderschön, wenn man diese kleinen Momente erkennt und ins Herz einschließt. Vergiss' das bitte nie.", sagte er und nahm meine Hände und küsste die Handrücken.
Ich umarmte ihn darauf hin und bedankte mich bei ihm für jeden noch so kleinen postiven Moment. Er hatte Recht, mein Leben ist wirklich besser geworden, als ich angefangen habe, nicht alles so grau zu sehen. Ich ließ Farben in mein Leben fließen und die Momente und Erinnerungen mit Glücklichkeit übermanteln. Und das lag nicht nur daran, dass ich jetzt einen Freund habe, oder mein Lieblingsyoutuber neben mir war. Nein. Er öffnete mir die Augen zu einer wundervollen farbenfrohen neuen Welt, die schon seit Ewigkeiten in mir schlummerte, aber nie freigelassen wurde. Es war die ganze Zeit in mir. Nur als ich es freigelassen habe, habe ich mich glücklicher als je zuvor gefühlt.
Ich küsste leicht seine Lippen und bedankte mich dafür, dass er mir vertraut hatte und sich mir geöffnet hatte. Ich wusste wie schwer das ist. All' die dicken Betonwände herunter zu nehmen und jemanden an sich heran zu lassen. Doch sobald man es getan hat fühlt man sich nackt und möchte die Wände wieder hoch ziehen. Aber manchmal muss man sich an dieses neue Gefühl von Freiheit und Glücklichkeit gewöhnen, bis man es als ein Teil von sich selbst macht. Dann fühlt es sich an, als ob man einen riesigen Stein vom Herzen fallen lies und sich leichter fühlen würde.
Wir saßen da ein wenig länger und genossen die gegenseitige Gesellschaft. Arm in Arm. Kopf an Kopf. Und Hand in Hand.
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So, hier ist das neunte Kapitel. Ich hoffe, es hat euch gefallen. :)
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Was Sucht ER denn hier!? ✔️
FanfictionVioletta ist kein normales Mädchen. Ihren Humor versteht keiner. Ihre Persönlichkeit wurde als "verrückt" erklärt. In ihrer Schule ist sie allein. Niemand möchte etwas mit ihr zu tun haben. Deswegen versteckt sie sich auch in der Welt der Bücher, da...