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Boy, tell me what you're doing on the other side...
And so, just tell me what you're doing with that other guy.

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Es regnete.

Der Regen prasselte mit einem regelmäßigen Rauschen auf den Asphalt und in die Pfützen. Er lief den Bordstein entlang und durchnässte meine Schuhe.

Er trommelte auf das Dach der Bushaltestelle und der gleichmäßige Rhythmus hörte sich an wie ein trauriges Lied, welches der Regen nur für mich spielte. Ein Lied, dass er schon zum zweiten Mal für mich spielte.

Und es klang genau so schön wie letztes Jahr.

Ich sah auf und bemerkte den halb leeren Bus, der vor der Haltestelle bremste und die Türen öffnete. Schnell schnappte ich mir meine Tasche und stieg ein.

Ich ging bis nach hinten durch und setzte mich auf einen freien Platz. Der Regen klopfte sanft gegen das Fenster und spielte weiter sein Lied.

Ich seufzte leise und drückte müde meine Stirn gegen die kühle Scheibe des still stehenden Busses.

Felix erzählte immer, dass die Geister verlorener Seelen weinten wenn es regnet, und dass die Tropfen ihre Tränen waren. Aber das konnte gar nicht stimmen.

Sonst würde der Regen salzig schmecken.

Ich schaltete mein Handy an und starrte auf das Display. Mein Hintergrundbild war ein Foto von mir und Minho, wir hatten es gemacht kurz bevor er den Unfall hatte. Das war genau heute vor einem Jahr.

Seine Mutter rief zuerst bei uns an. Dann in der Schule. Minho war nicht nach Hause gekommen. Und auch sonst war er nirgends zu finden.

An dem Tag hatte es auch geregnet.

Ich strich mit meinem Daumen sanft über Minhos Gesicht. Die Polizei hatte eine Stunde nach dem Beginn der Suchaktion einen Anruf erhalten, Minho war von einem Auto angefahren worden. Der Fahrer des Wagens hatte ein Trauma erlitten und musste in eine Psychologische Klinik. Minho war noch am Unfallort seinen Verletzungen erlegen.

Minho war tot, und ich hatte es immer noch nicht richtig begriffen.

Ich hoffte immernoch, dass er irgendwann grinsend an meiner Tür stehen würde oder mir plötzlich eine Nachricht schrieb.

"War alles nur ein Scherz, ich bin gar nicht tot."

Ich wünschte es mir so sehr.

Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich vermisste meinen Hyung.

Ich vermisste seinen genervten Blick und seine spaßhaften Beleidigungen, ich vermisste wie seine perfekt geformten Augen glitzerten, wenn wir mal wieder einen unserer gescheiterten Tests hinter der Schule verbrannten, und ich vermisste sein lautes Lachen, wenn wir von den Lehrern wegliefen.

Ich vermisste ihn zu sehr um bereit zu sein ihn hinter mir zu lassen.

Der letzte Fahrgast, eine alte Frau, stieg ein und der Busfahrer schloss die Türen. Ich starrte aus dem Fenster und betrachtete weiterhin den silbern schillernden Regen. Plötzlich schimmerte auf der anderen Straßenseite etwas auf.

Ein Gesicht.

Minho.

Ich sprang sofort auf und lief ganz nach vorne. "Entschuldigung, aber ich muss ganz dringend wieder raus!! Es ist ein Notfall!!!" schrie ich den verdutzten Busfahrer an, der wortlos die Türen öffnete.

Ich stürmte in den strömenden Regen und rannte blind über die Straße. Es war fast schon ein Wunder, dass ich nicht überfahren wurde. Ich erreichte die andere Straßenseite und sah mich hektisch um. Doch hier war niemand.

Das hätte ich mir auch denken können.

Dort, wo ich geglaubt hatte sein Gesicht gesehen zu haben, war nur eine große, traurige Pfütze in der ich mich widerspiegelte. Kein Minho, nur ein völlig durchnässter und einsamer Han Jisung.

Ungläubig fuhr ich mir durch die Haare und kniff frustriert die Augen zusammen. "Ich werde langsam verrückt... jetzt bilde ich mir schon ein ihn in Pfützen zu sehen... das mit den Spiegeln war schon krass genug..."

Das war nicht das erste Mal dass ich mir einbildete Minho zu sehen. Vor ein paar Wochen hatte ich ihn in Spiegeln gesehen, ein paar Wochen davor auf Fotos die Monate nach seinem Tod aufgenommen wurden. Doch immer wenn ich genauer hinsah, war er verschwunden.

Ich schloss meine Augen und hielt mein Gesicht zum Himmel hin. Stumm ließ ich den Regen auf mein Gesicht prasseln und an meinen Fingerspitzen abtropfen. Es war komplett still um mich herum, das einzige Geräusch war das Rauschen des Regens.

Wenn Felix recht hatte, dann war der Regen alles was mir von Minho noch übrig geblieben war.

Ich öffnete meine Augen wieder und blinzelte das Wasser aus meinen Wimpern. Alles war so merkwürdig verschwommen. Ich machte einen Schritt in Richtung Zebrastreifen, um die Straße zur Abwechslung mal vorbildlich zu überqueren, doch dann spürte ich ein leichtes Ziehen an meinem kleinen Finger.

Ich drehte meinen Kopf und bemerkte den hauchdünnen roten Faden, der am einen Ende fest um meinem rechten kleinen Finger gewickelt war. Das andere Ende verschwand irgendwo in der Pfütze.

Verwirrt zog ich an dem Faden, doch er schien wie festgewachsen. Und ich konnte ihn auch nicht abstreifen. Ich zog nochmal, diesmal etwas stärker.

Da ging plötzlich ein Ruck durch den Faden, als würde jemand auf der anderen Seite auch daran ziehen. Ich verlor das Gleichgewicht und stolperte.

Ich hatte erwartet mir den Kopf anzuschlagen und im Dreck zu landen, doch dem war nicht so.

Stattdessen holte ich in letzter Sekunde tief Luft und ging durch die Pfütze hindurch, als wäre sie eine Tür.

🅵🆁🅸🅴🅽🅳🆂 // A Minsung Fantasy ff 🗝Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt