Die Suche beginnt

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Zwei Tage hatte ich nun schon auf dem Dachboden verbracht. Morgens weckten mich warme Sonnenstrahlen, die durch das große Dachfenster schienen. Dann fütterte ich die Tauben, redete manchmal mit ihnen und bastelte an der Kette weiter. Mehrere schimmernde Perlen waren an den Bändern aufgefädelt, die von einem golden schimmernden Garn gemacht waren, das ich auf dem Dachboden gefunden hatte und am Ende jeden Fadens hing eine Taubenfeder. Sie waren strahlend weiß, silbergrau oder bräunlich. Nur ein Faden hatte sein Ende noch nicht gefunden- es war Dories Feder, die noch fehlte. Seit meine Mutter festgenommen worden war, war Dorie nicht zurückgekehrt und spurlos verschwunden. Es schmerzte mich und ich streute immer wieder Körner an die Fensterecke, an der Dorie so gerne gesessen hatte. Doch sie kam nicht her, saß nicht auf meiner Hand, schmiegte nicht ihren kleinen Kopf in meine Handfläche. Ich legte die Kette zurück. Ich machte sie für Claire. Sie sollte ein besonderes Geschenk von mir für sie sein, an ihrem nächsten Geburtstag, an dem sie volljährig wurde. Wo war Claire eigentlich? Hatte sie nicht versprochen, gestern wiederzukommen? „Sie können uns nicht wieder entkommen sein". Die Worte hallten in meinem Kopf wider wie schwere Schläge einer metallenen Glocke. Claire war in Gefahr. Sie hatte mir nicht gesagt, wohin sie gegangen war. Das war wieder einer ihrer mysteriösen Ausflüge gewesen, dessen Ziel sie mir nicht mitteilte, um mich „vor mehr Scheiße zu bewahren", wie sie sagte. Womöglich hatten die Verfolger sie bereits gefunden und deshalb kam sie nicht zurück. Mein Puls begann zu rasen. Ich kniff die Augen zusammen. Was hatte die letzte Stimme gesagt? Sie wollten irgendwo hingehen. „Ely denk nach...". Ich massierte unbewusst meine Handgelenke, während ich mich konzentrierte. Diese Leute waren gefährlich und sie suchten uns. Ich war mir sicher, sie wollten uns in ein Heim stecken, wo wir von älteren Kindern verprügelt werden würden. Und dann hörte ich wieder die hallende Stimme in meinem Kopf. „Wir müssen zum Pelikan". Irgendwo hatte ich das schon mal gelesen.


Als ich das Haus verließ, fühlte ich nach der Kette in meiner Jackentasche. Sie gab mir Sicherheit und das Gefühl, die Tauben würden mich begleiten und Mums Namen flüstern. Ich drehte mich um, um die Tauben am Fenster zu erspähen, da fiel mein Blick auf unsere Haustür. Neben dem rostigen Türgriff klemmte etwas hinter einem der Holzbretter. Es war so klein, dass es mir kaum aufgefallen wäre. Ich näherte mich und erkannte, dass es die Ecke eines Zettels sein musste. Vorsichtig zog ich daran und hielt ein Stück verkratztes Papier in der Hand, auf dem nur drei Zeichen standen. „022". Was sollte das? Wie lange klemmte dieser Zettel schon dort? Sicherheitshalber steckte ich ihn ein und stieg die vielen Treppenstufen zu unserem Haus auf dem Hügel hinab, auf die andere Seite der Mauer, vorbei am Gestrüpp. Dann schlenderte ich durch die schmalen Gassen unserer Altstadt, leicht gebückt und den Kopf gesenkt, um nicht aufzufallen. „Pelikan...", murmelte ich, „...wieso kommt mir das so bekannt vor?". Eine Frau, die mir entgegenkam, musterte mich neugierig. Sie trug einen Korb mit frischem Gemüse und einer Stange Baguette darin. Als sie meinem hungrigen Blick folgte, wollte sie etwas sagen, doch ich schaute schnell auf den Boden und beschleunigte meine Schritte. Als ich mich kurz umdrehte, war die Frau weg. Ich wollte in eine weitere Gasse einbiegen, doch dann wurde ich auf ein Straßenschild, an dem die Frau gestanden hatte, aufmerksam. ‚Pelikan-Allee' stand in verblassten Buchstaben auf dem hölzernen Schild. In meinem Herzen machte sich Erleichterung und zugleich Angst breit. Das musste es sein. Ich wusste, ich hatte es schon einmal gesehen. Ich drehte mich nach allen Seiten um und bog in die Straße ein. Die Häuser links und rechts waren, anders als in den meisten Gassen, renoviert worden. An jedem Haus befand sich eine Hausnummer, die in goldenen Lettern eingraviert worden war. Ich schaute mir jedes Klingelschild an, doch niemand hatte den Nachnamen Pelikan. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Die Häuser waren in der Pelikan-Allee. Irgendwas musste hier sein, das mich zu Claire brachte. Plötzlich hörte ich eine Kinderstimme laut schluchzen. Sie kam aus einem Fenster in zweiten Stock eines Hauses. „Nein... ich will das nicht!" Das Kind heulte. Und plötzlich sah ich es. An der Scheibe des geöffneten Fensters war ein Vogel mit großem, breitem Schnabel aufgemalt. „Ein Pelikan..." Ich schaute mich um. Dann bog ich um die Ecke des Hauses und spähte in das Fenster des Erdgeschosses. Die Küche war leer. An dem kleinen Esstisch saß niemand, doch ich konnte eine Zeitung erblicken, auf die jemand etwas gekritzelt hatte. „Kann ich dir behilflich sein?" Eine kalte Hand packte mich an der Schulter. „Was willst du hier?", fuhr mich der Mann an, der mindestens zwei Köpfe größer war als ich. „I... Ich... Ich suche..." „Zu welcher Bande gehörst du hm?" Seine Zornfalten saßen tief in seiner Stirn und ich konnte seinen rauchigen Atem riechen. Ich fasste all meinen Mut zusammen. „Was haben sie mit Claire gemacht?", fragte ich mit zitternder Stimme. „Ich weiß dass Sie böse sind. Lassen Sie sie gehen!". „Wer soll das sein?", grunzte der Mann und musterte mich. „Meine Schwester. Wir wollen nicht ins Heim. Sie haben kein Recht, sie einfach mitzunehmen." Bevor ich begriff, was ich da gerade eben gesagt hatte, bückte sich der Mann und fragte mit ruhigerer Stimme: „Du hast also keine Eltern? Und streunerst hier allein durch die Gegend, auf der Suche nach Häusern, in die du einbrechen kannst? Du kommst jetzt mit mir mit". Er wollte mich hinter sich herziehen, doch in dem Moment fasste er sich an den Kopf und schaute auf die weiße Paste auf seinen Fingern. „Bah!" Er ließ mich los und versuchte, seine Haare von dem Geschmier zu befreien. Ich schaute nach oben und erblickte eine silbergraue Taube, die mich mit ihren braunen Kulleraugen anschaute, als wolle sie mir zulächeln. War das etwa Ennie? Dann schwang sie ihre Flügel und hob ab und ich rannte los, so schnell ich nur konnte. 

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 02, 2021 ⏰

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