Erinnerung

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Sein Herz pochte laut in seiner Brust, als er die Dachluke öffnete und über die weite Fläche sah. Da vorne war das Dach zu Ende. Dort, wo er gleich all dem Schmerz ein Ende bereiten würde. Er stieg auf das Dach des Elbkrankenhauses und schloss die Luke hinter sich. Langsam bewegte er sich auf die Dachkante zu, während eine Erinnerung an diesen Ort in ihm hochkam.

'Er steckte den Kopf aus der Dachluke und sah, wie das Mädchen über das Dach lief und an der Dachkante stehen blieb. In seinem Kopf arbeitete es. Er musste in Sekundenbruchteilen entscheiden, was er tat. Jede Sekunde, die er länger nachdachte, stieg das Risiko, dass das Mädchen sprang. Darauf bedacht kein Geräusch zu machen, stemmte er sich nach oben und verzog das Gesicht, als eine der Leiterstufen ein wenig knarzte. Doch Jana hatte ihn noch nicht bemerkt. Sie stand nach wie vor mit ihren eingegipsten Arm an der Dachkante und sah nach unten. So leise wie möglich stieg er auf das Dach des EKH und zog sein Handy hervor. Er wählte Melanies Nummer. Währenddessen behielt er das Mädchen im Auge und betete, dass sie nicht springen würde. „Melanie, ich hab' sie gefunden.", sagte er, als sich seine Partnerin am anderen Ende der Leitung meldete. „Sie ist auf dem Dach." Nervös sah er auf das Mädchen. „Sie will springen?", fragte Melanie. „Ja, wir brauchen einen Polizeipsychologen hier, aber flott." Mattes versuchte seine Stimme so leise wie möglich zu halten, damit Jana ihn nicht bemerkte. „Das dauert zu lange. Du musst versuchen, mit ihr zu reden.", sagte Melanie. „Was soll ich?", fragte Mattes atemlos und drehte den Kopf zu Jana. „Rede mit ihr. Erzähl ihr irgendetwas. Versuch Zeit zu gewinnen. Ich gebe das so weiter." Melanies Stimme klang ebenso angespannt, wie er sich fühlte. Kommst du hoch?, wollte er am liebsten fragen, doch er erkannte, dass das so klingen würde, als ob er nichts alleine schaffen konnte, als ob er nicht selbstständig wäre. „Okay...", sagte er stattdessen und legte auf. Diesmal war er also auf sich alleine gestellt. Keine Melanie. Keine erfahrene Polizistin. Er musste es alleine schaffen. Langsam begann er sich auf das Mädchen zuzubewegen. „Jana?" Er versuchte seine Stimme ruhig klingen zu lassen, doch er wusste, dass er nicht ruhig klang. „Hör mir zu..." „Nicht näherkommen!", rief das Mädchen, als es ihn bemerkte. Jana sah zwischen ihm und der Dachkante hin und her und als es den Blick schließlich nach unten wandte, begann Mattes sich wieder auf sie zuzubewegen. Je näher er war, desto größer waren die Chancen, dass er sie falls sie sprang noch irgendwie festhalten konnte. „Jana, hör mir zu...", begann er erneut. „Nicht näherkommen!", rief Jana erneut und machte ein paar Schritte weiter zur Dachkante. Mattes erstarrte auf der Stelle. „Ich weiß, wie du dich fühlst, glaub mir. Ich würde dir gerne etwas erzählen.", rief Mattes in dem Versuch das Mädchen irgendwie von der Dachkante wegzulocken. „Nicht näherkommen!" Janas Stimme klang aufgeregt und Angst schwang darin mit. Sie machte noch einen Schritt zur Dachkante und langsam wusste Mattes nicht mehr, was er zu ihr sagen sollte. Sie sah ihn an und Mattes sah Schmerz in ihren Augen. Wenn das Mädchen sprang, würde es seine Schuld sein. Vielleicht würde sie springen, weil er nicht die richtigen Worte fand. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken und er wünschte, Melanie wäre hier. Sie würde bestimmt die richtigen Worte finden. Die Selbstzweifel in ihm wurden immer größer und langsam schwand seine Hoffnung, dass Jana doch noch zurücktreten würde.'

Damals hatte er versucht Jana davon abzuhalten in die Tiefe zu springen und es letztendlich auch geschafft. Dieses Mal konnte er verstehen, was damals im Kopf des Mädchens vorgegangen war. Diesmal war er es, der an der Dachkante stehen würde und nach unten blicken würde. Und er würde springen. Niemand würde da sein, um ihn abzuhalten. Es gab in seinen Augen niemanden, dem er wirklich wichtig war und außerdem wusste niemand, dass er hier war. Er würde dastehen, in die Ferne sehen und nachdenken. Und irgendwann würde er springen. Er hatte seine Polizeiuniform an. Wie damals. Es war alles wie damals, nur, dass diesmal er der war, der springen würde. In diesem Moment hatte er zwar seine Polizeiuniform an, aber er war keine Polizist. Er war einfach Mattes Seeler, der von seinem Leben genug hatte. 

Notruf Hafenkante - Broken WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt