Angst

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So schnell sie konnte kletterte Melanie die Leiter zum Dach des EKH nach oben. Als Wolle ihr mitgeteilt hatte, dass sich möglicherweise Mattes auf dem Dach befand und sich in den Tod stürzen wollte, war sie sofort losgefahren und hatte sich auf den Weg zum EKH gemacht. Während sie noch nach oben kletterte, hoffte sie, dass er es nicht war, doch innerlich wusste sie es. Sie hatte mehrmals bei ihm angerufen, doch er hatte sich nicht gemeldet. Mitten im Dienst war er plötzlich weggewesen und Melanie machte sich riesige Vorwürfe, dass sie es fast nicht bemerkt hatte. Als sie den Kopf aus der Luke steckte, schnürte es ihr den Hals zu, denn es war tatsächlich Mattes, der da an der Dachkante stand. Das konnte doch nicht wahr sein. Mattes und Selbstmord begehen? Das passte doch gar nicht zu ihm. So feige war Mattes nicht. Sie stemmte sich nach oben und stieg auf das Dach. Claudia und Tarik standen bereits da und redeten auf Mattes ein, der sie kaum zu beachten schien. Es schien Melanie so, als ob er geistig nicht richtig hier wäre. Ihr Blick fiel auf einen Gegenstand in seiner Hand. Es war der blaue Glücksbringer, den er damals von Jana bekommen hatte, erkannte sie. Er hatte seine Hand fest darum geschlossen und starrte in die Ferne. „Mattes!", rief sie und blieb neben Tarik stehen. „Lass den Scheiß!" Langsam drehte Mattes sich zu ihr und sah sie an. Seine blauen Augen sahen seltsam leer aus und das machte Melanie Angst. Trotzdem sprach sie weiter. „Das passt doch überhaupt nicht zu dir. Einfach abhauen." Die Leere verschwand langsam aus Mattes Augen und es schien, als wäre er aus einer anderen Welt zurückgekehrt. Er nickte leicht. „Ich weiß, es passt nicht zu mir. Aber was spielt das für eine Rolle?" In seiner Stimme lagen keinerlei Emotionen und Melanie musste sich mit aller Macht dazu zwingen ruhig zu bleiben. Sie widerstand dem Drang einfach loszurennen. Würde sie sich ihm nähern, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass er springen würde. Mattes stand nicht mehr weit von der Kante entfernt und mit Schrecken sah sie, wie er sich nach vorne bewegte. „Es spielt eine große Rolle und jetzt bleib bitte, bitte einfach da stehen.", sagte sie und atmete innerlich ein wenig auf, als er sich nicht weiter nach vorne bewegte. „Jetzt denk doch mal nach. Du hilfst niemanden, wenn du da jetzt runterspringst. Am allerwenigsten dir selbst.", sagte Claudia. Mattes schnaubte und sagte nichts. „Jetzt sei doch mal vernünftig und komm da weg!", rief Tarik. Mattes schwieg noch immer und Melanie bemerkte, wie er nach unten sah. „Rede du mit ihm.", murmelte Claudia neben ihr. „Dir hört er immerhin zu." Melanie nickte ihr kaum merklich zu und redete weiter. „Willst du wirklich einfach deine ganze Zukunft an den Nagel hängen? Nur weil dein Leben zurzeit vielleicht nicht so läuft, wie du es gern hättest?" Melanie drehte ihren Kopf zur Seite und biss sich auf die Unterlippe, die angefangen hatte zu zittern. „Du hast ja keine Ahnung.", sagte Mattes und in seinem Blick lag ein Schmerz, wie Melanie es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. „Nein...", sagte sie und bemühte sich ihre Stimme ruhig zu halten. „Ich habe keine Ahnung. Deswegen möchte ich ja, dass du mit mir redest." Mattes sah sie an und blickte dann kurz zu Boden, bevor er seinen Blick wieder hob. „Melanie, es tut mir leid...ok?", sagte er rau. „Was, Mattes? Was tut dir leid?", fragte sie und versuchte ihn irgendwie beim Reden zu halten. Je mehr Zeit sie herauszögerte, desto eher würde er darüber nachdenken, ob es richtig war. Mattes antwortete nicht und drehte sich um, um sich noch näher zur Dachkante zu bewegen. Er war jetzt noch Zentimeter vom Abgrund entfernt. „Es ist egal, was du sagst.", sagte Mattes und wandte ihr wieder seinen Blick zu. „Ich werde springen." Mit Schrecken sah Melanie in seine blauen Augen und erkannte nur Kälte darin. NEIN!, schrie es in ihr. Das war nicht Mattes, der hier vor ihr stand. Es war jemand anderes. Jemand Fremdes. Ihr Körper begann zu zittern und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie spürte, wie Angst in ihr hochkam. Noch nie hatte sie so große Angst um einen Menschen wie jetzt gehabt. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn Mattes springen wurde. Melanie spürte etwas in sich aufkeimen. Es war etwas Großes, etwas, was sie jahrelang zurückgehalten hatte. Es war Liebe. Immer weiter sah sie in diese nun so kalten blauen Augen, die erste Träne rollte an ihrer Wange hinunter und sie wusste, dass ihr Leben ohne Mattes nichts mehr wert sein würde. 

Notruf Hafenkante - Broken WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt