Kapitel 1

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I

Und weil er im Traum einen Befehl erhalten hatte,

zog er in das Gebiet von Galiläa

und ließ sich in einer Stadt namens Nazaret nieder.

Denn es sollte sich erfüllen,

was durch die Propheten gesagt worden ist.

(Mt 2,22-23)

Jakub Wilk, Dr. Jakub Wilk, spazierte selig aus der Basilika der Ankündigung in Nazareth. Diese Reise ins Heilige Land war die richtige Entscheidung gewesen. Endlich konnte er ein wenig zu sich selbst und zu Gott finden.

Es war später Abend. Die Luft war klar und rein, der Verkehr mäßig. Ein Eselskarren kreuzte seinen Weg. Wieder einmal hatte er einen außergewöhnlich intensiven Tag hinter sich gebracht. Er würde noch in einer Restauration einkehren und etwas zu sich nehmen und danach sein Hotel aufsuchen.

Jakub fand ein gemütliches Lokal direkt gegenüber der griechisch-orthodoxen Kirche der Ankündigung. Er setzte sich an einen freien Tisch und bestellte sich eine Falafel mit Humus. Der gemeine Mitteleuropäer verstand unter Humus zwar etwas anderes als ein Kichererbsengericht, jedoch ließ sich Jakub davon nicht stören, sondern es sich schmecken.

Nachdem er gegessen hatte, bestellte er sich noch einen Mokka und musterte die anderen Gäste – es waren ausschließlich Einheimische.

Ebenso die Angestellten. Zwei Kellnerinnen bedienten die hungrigen Gäste. Beide trugen Uniform, das Haar zum Zopf gebunden.

Besonders eine der beiden machte Eindruck auf ihn. Er konnte es sich nicht recht erklären, doch ihr Auftreten ließ vermuten, dass sie ganz und gar nicht in diesen Beruf passte. Irgendwie wirkte sie…er suchte nach dem richtigen Wort…vergeistigt. So als ob sie über den Dingen schwebte. Nicht arrogant, das nicht, aber dennoch irgendwie entrückt. Er konnte es sich nur nicht wirklich erklären.

Jakub sah noch einmal zu ihr hinüber. Gerne hätte er sie danach gefragt, aber sein Verstand riet ihm, dies zu unterlassen.

Also schlürfte er seinen Mokka und wartete auf die Sperrstunde. Er zahlte die Rechnung bei der anderen Kellnerin und machte sich auf, zu gehen – er war der letzte Gast.

Auf der Straße atmete er tief durch.

Die überraschend reine Luft animierte ihn dazu, der griechisch-orthodoxen Kirche noch einen Besuch abzustatten.

Die schwere Tür schwang auf und er setzte sich auf eine der Bänke. In völliger Dunkelheit sitzend meditierte er und betete. Durch nichts abgelenkt, verbrachte er eine gute halbe Stunde in dem antiken Gemäuer, bevor er sich – in friedlicher Stimmung – wieder nach draußen begab.

Sein Rückweg zum Hotel führte ihn wieder an dem kleinen Lokal vorbei, aus dem gerade eben die junge Kellnerin trat.

Er grüßte freundlich, sie erwiderte den Gruß – offenbar hatte sie ein nicht allzu schlechtes Personengedächtnis. Oder sie hatte einfach reflexartig gehandelt.

Als sie bemerkte, dass ihr rechter Schuh offen war, bückte sie sich, um in wieder zu schließen.

Genau in diesem Moment schrak Jakub zusammen, als ein lautes, mark- und beinerschütterndes Heulen ertönte.

Noch bevor er fragen konnte, was dies zu bedeuten habe, sprang sie zu ihm hin und rief ihm englisch zu:

„Die Raketen! Die Raketen! Wenn sie aus Zububa kommen, haben wir maximal zwei Minuten! Schnell zum Schutzbunker!“

Sie riss ihn mit sich fort, noch ehe er begreifen konnte, was geschah.

Raketen…

Wurden Raketen auf die Stadt gefeuert?

Jakub hatte nun den Ernst der Lage erfasst und rannte der jungen Frau hinterher.

„Nun kommen Sie schon.“, rief sie ihm im Sprint zu.  „Der Keller ist bei der koptischen Kirche, bis dahin sind es knapp dreihundert Meter.“

Jakub eilte der Frau, die er doch gar nicht kannte, quer durch Nazareths Gassen hinterher, bis sie schließlich außer Atem bei der koptischen Kirche der Ankündigung anlangten.

„Da hinein!“ Sie wies auf das Nebengebäude.

Sie schlüpften durch eine offenstehende Tür.

Jakub sah auf die Uhr – seit Ertönen der Sirenen waren etwa anderthalb Minuten vergangen.

Im Keller befanden sich bereits etwa fünfzig Menschen.

Nach wenigen Sekunden ertönte ein animalisches Pfeifen, dann ein dumpfes Grollen, gefolgt von einer mittleren Erschütterung. In kurzen Abständen folgten weitere gedämpfte Schläge, diese schienen jedoch weiter entfernt.

Jakub betrachtete die Menschen um ihn herum. Die meisten schienen nicht einmal verängstigt – offenbar erlebten sie solche Angriffe öfter.

Automatisch landete sein Blick wieder bei der Kellnerin. Er reichte ihr die Hand und sagte:

„Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.“

Sie winkte ab.

„Schon gut.“, sagte sie einfach. „Ich bin Shaina.“

Shaina also. Die Schöne. Einen treffenderen Namen hätte es kaum geben können, für diese knapp fünfundzwanzigjährige Frau, die ihre langen schwarzen Haare nun offen trug.

„Jakub.“, antwortete er im gleichen Tonfall.

„Du bist nicht von hier, oder Jakub?“, fragte sie mit einer Spur von Neugier. Offenbar nahm sie ihre Vorstellungsrunde als Anlass, ihn zu duzen.

„Richtig.“, bestätigte er. „Ich komme aus Polen.“

„Also bist du nur auf der Durchreise?“, hakte sie nach. Irgendwie entdeckte Jakub ein leichtes Bedauern in ihrem Tonfall.

Er nickte, was ihm einen traurigen Blick einbrachte. Oder bildete er sich das nur ein?

Ein weiteres dumpfes Grollen ertönte und unterbrach seinen Gedankengang.

„Wohin führt dich dein Weg von hier?“, kam ihre nächste Frage.

„Nach Kafernaum am Ufer des Tiberias-See.“, antwortete er wahrheitsgemäß.

Sie schwieg und schien über irgendetwas nachzudenken.

„Von dort am Jordan entlang bis nach Jericho, ans Tote Meer und dann über Hebron und Bethlehem nach Jerusalem.“, eröffnete er ihr.

Nach längerem Schweigen – das dumpfe Grollen war ebenfalls verstummt – sagte sie schließlich:

„Nach Kafernaum müsste ich demnächst auch mal. Ich habe dort in der Nähe einen Onkel, den ich mal wieder besuchen müsste.“ Ihre eigentliche Frage ließ sie dabei im Raum stehen.

Jakub lächelte.

„Wir können gerne zusammen dorthin reisen, wenn du möchtest.“, schlug er – ganz in ihrem Sinne – vor. Eine ortskundige Begleiterin würde seine Reise stark vereinfachen. Und vielleicht kam er auf diese Weise hinter ihr Geheimnis, das sie offenbar hütete.

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