»Dieser Kerl macht mich sowas von verrückt.«
»Du meinst, noch verrückter als du schon bist?«, erwiderte Irina.
»Ich befürchte, ja.« Ich lief den Weg von der U-Bahn-Station nach Hause und drückte mir das Handy ans Ohr. »Wie kann es sein, dass dauernd ich Hitzewallungen bekomme, wenn ich ihn sehe. Dann freu ich mich jedes Mal wie ein Kind auf der Hüpfburg und mein Herz schlägt so sehr, dass ich nicht glaube, dass das so gesund ist.«
»Na dann: Ran an den Speck. Ihr solltet endlich mal was zu zweit machen, anstatt rumzudrucksen und es bei Flirten zu belassen.«
»Ich bin schon dabei«, stöhnte ich. Auf dem schmalen Weg zu unserer Wohnung musste mich an einem streitenden Pärchen vorbeidrängen. Liebe war einfach kompliziert.
»Und?«, fragte Irina prompt.
»Er hat einen vollen Terminplan«, sagte ich mit einem Augenrollen und drückte wie wild auf den Knopf neben dem Aufzug. Wieso dauert das immer so lange? »Hat mich echt Überwindung gekostet, ihn zu fragen. Naja, die Chance besteht, dass er trotzdem ein bisschen Zeit hat.« Kurz schilderte ich ihr, was er geantwortet hatte.
»Das gibt definitiv einen Minuspunkt für ihn, wenn er sich nicht meldet«, schnaubte Irina empört. »Wenn er sich für dich interessiert, soll er sich gefälligst auch Zeit nehmen. Da kann der Kerl noch so lieb und nett sein. Wenn es ihm wichtig ist, dann ...«
»Jetzt mach mal halblang«, redete ich dazwischen. »Er hat wirklich keine Zeit. Am Samstag ist er mit Volleyball beschäftigt und Sonntag hat er scheinbar schon was vor. Vielleicht ein Familientreffen oder sonst irgendwas, das Priorität hat. Was weiß denn ich.«
Himmelherrgott, für einen derart lahmarschigen Aufzug hatte ich wirklich keinen Nerv. Er befand sich immer noch irgendwo im zehnten Stock und selbst, als ich wie wild auf den Knopf einhämmerte, passierte nichts.
»Hmpf«, erwiderte Irina. »Ich sag ja nur.«
»Bist ne gute Freundin«, meinte ich. »Machst dir immer Sorgen um mich.«
»Ich weiß ja, wie sich das anfühlt.« Sie schnaufte kurz. »Ich will dich nur davon abhalten, mit rosaroter Brille gegen die Wand zu laufen. Bei Anton war es nämlich genauso.«
»Er spukt dir immer noch im Kopf herum, oder?«
Es war schon über ein Jahr her, dass sie sich getrennt hatten und noch immer war sie nicht über ihn hinweg.
»Ich wünschte, es wäre nicht so«, antwortete sie leise. »Weißt du, manchmal glaube ich, er wird mir einfach nie aus dem Kopf gehen.«
»Ach, Quatsch!« Ich fragte mich, wie sie so lange an ihm hängen konnte, obwohl sie ganz genau wusste, dass es zwischen ihnen nicht funktionieret hätte. Aber war wohl selbst nicht qualifiziert genug, um ihr Beziehungsratschläge zu geben. Schließlich hatte ich noch nie einen Freund gehabt.
»Aber ich mache Fortschritte«, sagte sie mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. Dann quietschte sie plötzlich: »Ich habe nächste Woche eine Verabredung!«
»Warte, was? Ich will alles wissen!«
Ich hörte Irinas Aufregung, als sie von ihrem Date erzählte. Sie hatte ihn über eine Freundin kennengelernt und hatte sich nach langer Überlegung – und Überprüfung der astronomischen Kompatibilität – entschieden, ihn zu treffen. Ein Toast auf das Tageshoroskop, das sie davon überzeugt hatte, einen ersten Schritt zu wagen und ihren Ex hinter sich zu lassen.
»Ich bin so stolz auf mich. Fast hätte ich wieder nein gesagt, aber diesmal konnte ich einfach nicht kneifen.«, sagte sie überschwänglich.
»Sehr gut!«
»Sag mal, was schnaufst du eigentlich so?«
»Aufzug kam nicht.«
Nachdem er sich nicht erbarmt hatte, mir das Leben etwas leichter zu machen, hatte ich mich eben doch für das Treppenhaus entschieden. Bis in den fünften Stock waren es viel zu viele Treppenstufen. Und Irina hatte recht. Ich schnaufte wie ein Walross.
»Vielleicht sollte ich doch mal wieder ein bisschen mehr Sport machen«, keuchte ich, als ich vor unserer Tür angekommen war und meinen Schlüssel mit der linken Hand aus der Jackentasche kramte. »Alle gehen heute Abend zum Sport und ich sitze zuhause rum. Das ist so deprimierend.«
»Sport ist Mord«, sagte Irina ernst. »Bleib lieber zuhause und schau eine Serie. Macht Spaß und ist ungefährlich.«
Ich musste lachen, als ich meinen Schlüssel auf die Ablage pfefferte und meine Schuhe mit der Zehenspitze von den Füßen streifte.
Irina war die unsportlichste Person, die ich je kennengelernt hatte. Ihre sportliche Betätigung bestand vor allem darin, sich vom Bett zum Kühlschrank und zurück zu bewegen.
»Nein, wirklich. Vielleicht sollte ich heute Abend mal wieder schwimmen gehen. Ich halte das nicht aus, den anderen zuzuhören, wie oft sie zum Training gehen, Fortschritte machen, Wettkämpfe oder Spiele gewinnen und sich überhaupt alles um ihren Sport dreht, während ich ein Liedchen ‚From Hero to Zero' singen kann.«
Jetzt war Irina an der Reihe, zu lachen. Sie prustete: »Tu, was du nicht lassen kannst, aber ich habe dich gewarnt.«
»Keine Sorge, ich geb auf mich Acht«, grinste ich.
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Glücklicherweise kam ich mit meinem Hochschulsportausweis ins Olympia-Schwimmhalle. Zu den regulären Öffnungszeiten konnte – und wollte – sich den Eintritt ja keiner leisten. Mit dunkelrotem Badeanzug und meinem Handtuch unterm Arm tapste ich über die Fliesen. Es fühlte sich schon etwas merkwürdig an, hier schwimmen zu gehen. Vor allem die hohe Decke und die gewaltige Tribüne, die sich um das Becken herum erstreckte trugen zu einer einzigartigen Atmosphäre bei. In den Siebzigern wurde sie für die Sommerspiele gebaut und ich konnte mir gar nicht vorstellen, was es für ein atemberaubendes Gefühl gewesen sein musste, hier antreten zu dürfen.
Heute saß keiner auf den Rängen. Gähnende Leere erstreckte sich über die gesamte Zuschauertribüne. Auch die Scheinwerferleisten an der Decke waren ausgeschaltet und hingen ganz traurig herum.
Doch das 50-Meter-Becken war wie immer gut gefüllt. Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um auf dem Weg zum Becken nicht auszurutschen. Das würde mir nämlich echt ähnlichsehen.
An der äußeren Bahn stieg ich ins Wasser und tauchte einmal kurz unter, bevor ich mich vom Rand abstieß.
Es fühlte sich gut an, sich zu bewegen. Als ich erst mal im Wasser drin war, wollte ich gar nicht mehr raus. Ich schwamm eine nach der anderen Bahn und hörte erst auf, als ich völlig k.o. war.
Ausgepowert, aber glücklich lief ich in Richtung Duschen zurück. Ich hatte keinerlei Schmerzen, was mich fast ein bisschen erstaunte. Normalerweise merkte ich noch ein kleines Stechen, wenn ich Sport machte. Es war nicht schlimm, aber es erinnerte mich immer wieder daran, dass ich vorsichtig sein musste.
Als ich mich nach dem Duschen anzog, strich ich gedankenverloren über die kleine Narbe an meiner rechten Hüfte. Sie hatte einst so viel Kummer und Verzweiflung in mein Leben gebracht. Doch vielleicht hatte es so sein sollen und es würde am Ende doch alles einen Sinn ergeben. Vielleicht würden sich nun alle Puzzleteile zusammenfügen, die ich in den letzten Jahren gesammelt hatte. Eine Planänderung könnte schließlich auch zu etwas führen, das noch viel schöner war als das, was ich mir für mein Leben vorgestellt hatte. Möglicherweise war es ja doch so vorgesehen, dass sich manche Türen schließen, damit man die Chance auf etwas hat, das noch viel besser war. Zumindest hoffte ich das.
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Verdammtes Universum
Teen FictionFür Luna fühlt es sich so an, als hätte sich das gesamte Universum gegen sie verschworen. Nach Beendigung ihrer Karriere als rhythmische Sportgymnastin findet sie sich in einem gewöhnlichen Studentenleben wieder und muss erst lernen, mit Zuversicht...