Kapitel 1: Ein stiller Traum

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"Mein Name ist Ashino Anohera und ich bin zehn Jahre alt. Ich habe braune schulterlange Haare, trage gerne einen dunklen Mantel und ich bin sehr schüchtern. Deshalb trage ich immer einen Schal, in dem ich mein Gesicht verstecken kann", fängt Ashino, in der Schule an zu Papier zubringen. Die Klasse, in der sie ist, soll heute einen Aufsatz über sich selbst schreiben. Für sie aber wird es dunkel und an ihrem Tisch gegenüber sitzt ein Mädchen, welches genauso aussieht, wie sie selbst. Nur Ashino kann sie sehen. Denn sie ist ihr zweites Ich, welches sie vor Gefahren beschützen möchte. Das Mädchen gab ihr den Namen Renaí. "Möchtest du wirklich schreiben, dass du dich lieber vor anderen verstecken würdest?", fragt Renaí. Ashino streicht diese Worte wieder durch und entgegnet ihrem anderem Ich, dass es doch sowieso jeder sehen kann. "Wenn dich jemand fragt, dann sagt einfach, dass du krank bist und niemanden anstecken möchtest", antwortet Renaí darauf.

Als die Schule zuende ist, geht sie still und leise zu ihrem Lieblingsplatz, einem alten, toten Baum. Er mag nicht mehr schön aussehen, für Ashino ist es aber genau das, was ihre Fantasie beflügelt. Was könnte dort, an den Ästen alles hängen? Ahornblätter, Kirschblüten, villeicht aber auch etwas, das sie garnicht kennt. Seit sie diesen Baum gefunden hat, hat er sich nicht verändert. Nachdenklich sieht sie sich seine Krone an. "Es ist doch nur ein toter Baum", sagt Renaí. "Ja, aber dieser Baum muss soviel erlebt haben. Die Menschen, die vorbei gingen, die Menschen, die ihn gepflegt haben, die Blätter die gefallen und immerwieder nachwachsen sind", antwortet Ashino unbeeindrickt von ihrer inneren Stimme. "Und im Winter stand er nackt und angreifbar einfach nur rum und wartete, bis er erfroren war", fügt ihr anderes Ich hinzu. Ashinos Schal dient dabei nicht nur dazu sich zuverstecken, sondern ist für sie, wie die Blätter, die den Baum schützen. Sie fühlt sich sehr verletzbar, ist immer in sich gekehrt und sieht alles irgentwie anders, als andere. Das macht sie gruselig. Man darf nicht vergessen, dass sie jeden Tag von Kindern umgeben ist. Sie ist zwar selbst noch eins aber weil sie so anders wirkt, kann sie keine richtigen Kontakte knüpfen. Eigentlich möchte sie das auch nicht. Renaí hat ihr schon nach den ersten paar Tagen in dieser damals noch neuen Schule geraten, sich lieber von den Anderen fernzuhalten. "Sie würden dich ja doch nicht verstehen", waren ihre Worte.

Nachdem sie einige Stunde später zu Abend gegessen hat, legt sie sich schlafen. Manchmal, so wie heute, übernimmt dann Renaí den aktiven Part. So kann Ashino die Erlebnisse der vergangenen Zeit besser verarbeiten:

So still...

Sie bewegt nie den Mund, redet mit niemanden, nur mit mir, ihrer inneren Stimme. Sie wirkt so erwachsen. Aber warum sie diesen Baum so mag werde ich nie verstehen. Hehe, auch ich kann nicht alles über Ashino wissen. Aber es gab eine Zeit, zu der sie mich nochnicht gebraucht hat. Denn sie war fröhlich, aufgeschlossen und gerne mit anderen zusammen. Doch dann fing sie an nachzudenken. Die Menschen wirkten seltsam, so falsch. So... hinterhältig. Da waren solche Momente, die haben ihr echt Angst gemacht. Einmal war da dieses Mädchen. Ashino hat sie zwar nie angesprochen aber manchmal mitbekommen, wie sie sich mit anderen unterhalten hat. Erst wirkte sie ganz ok. Sie schloss schnell Freundschaften aber immer nur aus egoistischen Gründen. Um Hausaufgaben gemacht zubekommen oder um sich etwas Geld zuerschnorren, weil ihre Eltern ihr angeblich nichts geben. Als Ashino das bemerkte, begann ich zuerwachen. Erst schaute ich mich verwirrt, durch ihre Augen, in der Welt um. Die Menschen waren wirklich schlimm. Sie waren und sind die Kinder vergangener Tage. Es ist wie ein Kreislauf. Was sie bekamen, geben sie weiter. Und da wundert man sich, dass die erwachsenen nur von Macht und Geld sprechen. Ich fühlte mich, durch Ashinos Angst gegenüber ihnen so hilflos und nackt. Ich kauerte mich in ihrem Unterbewusstsein zusammen. Zuerst konnte ich ihr auch nicht soviel mitteilen. Ich wollte ihr sagen, dass es mich gibt. Aber ich bekam nur einzelne Wörter wie "kalt" heraus. Doch irgentwie scheine ich sie erreicht zuhaben. Denn sie kaufte sich dann diesen Schal. Aber ihre Eltern wollen mich loswerden. Sie glauben Ashino brauche Hilfe. Sich so zurückzuziehen kann nicht normal sein, sagen sie immer. Halte ich sie etwa davon ab Freunde zu finden? Ich bin zwar ihre innere Stimme aber gerade deshalb bekomme ich doch alles mit. Dann merke ich, dass es mir weh tut. Und was mir weh tut, tut auch Ashino weh. Sie zeigt es nur nicht so. Sie legte sich nur in ihr Bett und sagte, nachdem sie sich zugedeckt hat, "Ich bin doch einfach nur ich." Aber sie muss da wieder hin. Zu diesem Psychologen. Das letzte mal wirkte er ganz nett. Herr Larsh, so ist sein Name, hat ihr versichert, dass er mich nicht töten möchte, sollte da noch etwas in ihr sein. Aber ich glaube ihm nicht. Wenn er mich findet, dann wird er mich töten. Wozu sonst muss Ashino dahin? Deshalb hab ich Angst morgen mit ihr mitzukommen. Ich sollte sie doch beschützen. Jetzt beschützt sie mich.

Am nächsten Tag steht sie vor der Praxis. Nachdenklich beobachtet sie die Patienten durch das Fenster. Sie alle sehen so aus als wenn sie glauben, dass sie gesund sind. "Sie wurden genauso gezwungen hier zu sein", befürchtet Renaí. "Ja aber sie sehen ganz normal aus", antwortet Ashino etwas mitleidig. Mit etwas Verspätung holt Herr Larsh das Mädchen in sein Sprechzimmer. Er ist es vom ersten Termin gewohnt, dass sie sich lieber draußen aufhält. Das Zimmer ist eigentlich für Erwachsene ausgelegt aber das mag sie irgentwie. "Ich weiß ja, dass du dich noch nicht so ganz an mich und diese Situation gewöhnt hast. Deshalb möchte ich dir nochmal die selben Fragen stellen, die ich dir bei unserem ersten Gespräch gestellt habe. Denn ich bin mir sicher, dass du viel über deine Antworten nachgedacht hast. Bist du damit einverstanden?" fragt Herr Larsh. Ashino, welche sich wie gewohnt in ihren Schal versteckt, nickt leicht und wartet die erste Frage ab. Er lächelt und scheint es wirklich gut zumeinen. "Warum glaubst du, haben deine Eltern dich zu mir geschickt?", ist seine erste Frage. An dieser Stelle könnte Ashino sich an dutzende Gedanken diesbezüglich zurückerinnern. Aber sie antwortet genauso spontan wie bei der ersten Sitzung. Sie sagt, dass sie sich nicht verstellen möchte, dass es falsch wäre eine andere Person zu mimen. Ihr Psychologe ist von dieser Kenntnis über sich selbst beeindruckt. "Wie wärst du denn, wenn du dich verstellen würdest?" fragt er. Ihre Antwort ist wieder sehr spontan aber sie bringt ihre Worte etwas aufgeregt heraus. "Dann wäre ich offen und würde mit allen möglichen Leuten reden." Wärend sie das sagt, rutsch ihr Schal von der unteren Hälfte ihres Gesichts. Ein Symbol dafür, dass diese Antwort eine Art Befreiung für sie war. "Sie ist sich also darüber bewusst, was sie nicht sein möchte, was aber das Ziel unserer Sitzungen wäre",  denkt sich Herr Larsh. "Ich könnte ihre Eltern glücklich machen, indem ich sie durch Mabipulationen dazu bringe von dieser Haltung abzuweichen. Sie bezahlen mich schließlich dafür. Aber ich könnte ihr auch helfen diesen Stand zufestigen. Oder ich wecke ihre Lebensfreude und mache sie selbstbewusst und stark. Moment... Warum habe ich Zweifel an ihrer Lebensfreude? Wahrscheinlich genießt sie das Leben auf eine Art, die vielen von uns fremd ist", überlegt er weiter, wärend Ashino erklärt warum sie so zufrieden ist. Das es ihr Spaß macht die Leute zubeobachten. Ihr Psychologe kommt schließlich zu dem Entschluss, dass er einen neuen, einen ungewöhnlichen Weg einschlagen muss. "Wenn du die Menschen tatsächlich so gerne beobachtest, kann ich dir ein Buch mitgeben, dass ich mal für meine Kinder geschrieben habe. Darin erkläre ich, was mein Beruf ist, und beschreibe auch manchmal, mit einfachen Worten, was ich machen kann um ein bestimmtes Ziel zuerreichen", schlägt er ihr vor. Wieder denkt er nach, und überlegt ob es für diese Sitzung genug ist. Sie sieht glücklich aus. Das möchte Herr Larsh mit weiteren Fragen nicht kaputt machen. Es stehen zwar noch Zwei aus aber diese können bis zum nächsten Mal warten.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 13, 2021 ⏰

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