Geronimos Traum

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„Angefangen hat das ganze Elend 1492", sagte der Indianer mit ausdrucksloser Stimme.

Ich nippte an meinem Bier. Über die Pendeltüren fiel mit unmittelbarer Brutalität Sonnenlicht in den staubigen Raum, und die Wüstensonne zeichnete ein gleißendes Parallelogramm auf den Dielenboden. 

Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn. Allein der Gedanke an eine funktionstüchtige Klimaanlage wäre an diesem gottverlassenen Ort purer Luxus gewesen. Müde beobachtete ich den Wirt, einen großen, kraftstrotzenden Mann, dem ebenfalls Schweißperlen über den fast kahlen Kopf rannen. Lethargisch polierte er mit einem dreckigen Lappen seine Gläser.

Ich überlegte kurz was mir diese abgerissene Gestalt zu meiner Linken verdeutlichen wollte.

„Columbus?" Dem Indianer huschte der Ansatz eines Lächelns übers Gesicht: „Ja, dieser genuesische Herumtreiber."

Wieder setzte eine dieser Pausen ein, von der man nicht wusste, ob der Alte überhaupt noch weiter sprechen würde. Ich hatte mich schon daran gewöhnt. Seit meiner Ankunft vor nicht ganz einer Stunde hatte mich die stetig ansteigende Hitze unempfänglich gegen Überraschungen gemacht. Warum in aller Welt hatte ich hier Halt gemacht? Warum hatte ich die Interstate verlassen? Mein Enthusiasmus und meine romantische Vorstellung vom wilden Westen, vom Campieren am knisternden Lagefeuer, von der unendlichen Weite der Wüste und lockenden blauschimmernden Gebirgen waren schnell derselben augenfälligen Trägheit gewichen, die die Bewohner dieser öden, menschenfeindlichen Landschaft vor allem anderen auszeichnete.

Regungslos, die schwarzen Augen voll kaltem Glanz, saß er da, als wäre er schon immer dort auf diesem Barhocker gesessen, als hätte er auf mich gewartet, um mich über die Verhältnisse in diesem seinem Lande aufzuklären.

„Dieser Trottel!" Wahrhaftig, nun grinste das alte faltige Gesicht. „Hat doch tatsächlich geglaubt, er hätte Indien entdeckt." Sein heiseres hgahga waberte durch das Halbdunkel, in dem wir saßen.
„I n d i a n e r. Hgahga." Während er das Wort lustvoll in die Länge zog und mit einem kehligen Lachen untermalte, verzerrte sich seine dunkle Gesichtshaut in noch tiefere Falten, und ich musste unweigerlich an den Grand Canyon denken, wohl ein Vorgeschmack auf jene bizarre Schlucht, die zu besichtigen ich noch vorhatte.
„Deutschland", sagte der Indianer und diesmal waren seine ausdruckslosen Augen direkt auf mich gerichtet.

„Ja", erwiderte ich knapp. Mir war etwas unwohl hier so allein in diesem Diner abseits der Hauptroute. Diner? Vielmehr Saloon, bestimmt 150 Jahre alt; ehemals solide den Stürmen der Wüste und den ihrer rustikalen Bewohner standhaltend, nun wohl mehr von Termiten oder dem Hausbock zerfressen und einen eigentümlichen Geruch von Harz und Rauch und vergangenen Zeiten ausströmend.
Allem was nicht im TUI-Katalog steht, ist wohl doch abzuraten. Das Los des Individualtouristen.
Eigentlich hatte ich ans Meer gewollt. Kalifornien, Long Beach, Hollywood, das bekannte, geschätzte Amerika eben. Endlose Straßen, palmengesäumte Strände, gesegnete Landschaft so weit das Auge reicht, offene kurzweilige Menschen, berühmte Boulevards, mondäne Hotels, Glanz und Gloria, Fülle und Reichtum in Gottes eigenem Land.
Und nun das hier: ein abgehalfterter alter Indianer, von dem ich nicht wusste, ob er betrunken oder geisteskrank war.

Karl May kam mir in den Sinn, Winnetou, Stolz der Prärie; edle Wilde mit stoischer Ruhe ihr Land durchquerend, als Mahnmal einer verlorenen Gerechtigkeit. Nichts von all dem, der Alte kam mir total suspekt vor.
Deutschland? Er hatte das deutsche Wort verwendet. Ein gebildeter roter Mann, dachte ich mir und unterzog ihn nochmals einer eingehenden Untersuchung.
Mehr graues als schwarzes in der Mitte gescheiteltes Haar, das knapp über die Schultern fiel, hohe Wangenknochen, ein schmallippiger Mund, die kräftige Nase, breit und gekrümmt, raubvogelartig. Das ungewöhnlichste aber waren seine schwarzen Augen, die, wenn Licht auf sie fiel, anthrazit wie Steinkohle glänzten. Für mich waren sie unergründlich, sie schienen durch mich hindurchzusehen, als gälte es weit hinter mir etwas ganz anderes zu entdecken.
Wer wusste schon was in den Köpfen dieser Animisten vor sich ging?
Ein altes aber sauberes Baumwollhemd, das unter einem Gürtel bis über die Hüften hing, eine einfache helle Hose und weiche Lederstiefel, die bis an die Knie reichten, rundeten das Bild ab.

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